Der Tod bin ich
etwas Einzigartigem. Volker trug einen Rucksack, in den reichlich Proviant gepacktwar. Fernrohre und anderes Gerät waren bereits oben im Lager aufgebaut. Allerdings hatten wir kein Glück, Wolken bedeckten den Nachthimmel, und es hatte keinen Sinn, dass wir alle nach oben starrten. Wir vereinbarten wechselnde Nachtwachen. Volker übernahm meine Schicht, um mich nach meiner langen Anreise ausschlafen zu lassen.
Auch in den nächsten Tagen blieb das Wetter schlecht, der Himmel zeigte sich zugezogen, als wolle er seine Geheimnisse für sich behalten. Dann endlich am achten Oktober weckte uns die Wache in den frühen Morgenstunden. Es hatte aufgeklart, und wir fixierten mit unseren Fernrohren die Stelle, wo wir den Eintritt des Sputnik erwarteten. Gegen fünf Uhr fand dann das Wunder statt, auf das wir alle gehofft hatten: Schon mit bloßem Auge erkennbar zog ein Objekt zu der von uns berechneten Zeit über den Nordhimmel. Ich zweifelte und warf ein, es könne sich um ein Flugzeug handeln. Der Bahnverlauf und vor allem das geräuschlose Dahinziehen belehrten mich jedoch eines Besseren: Dieser Lichtpunkt war der Sputnik! Andächtige Stille kehrte bei uns ein, gebannt blickten wir nach Osten, bis der Satellit verschwunden war.
Später gingen wir gemeinsam nach Segewitz hinunter und setzten eine Meldung auf, die wir an den staatlichen Nachrichtendienst telegrafierten. Kurz darauf brachte der Rundfunk die Mitteilung, dass der Sternwarte in Segewitz die Beobachtung des ersten menschlichen Raumflugkörpers gelungen war.
3.
Meine beruflichen Pläne waren vorgezeichnet: Ich würde demnächst eine Stelle bei Professor Matussek in Leipzig antreten. Matussek war ein enger Mitarbeiter von Gustav Hertz, dem Nobelpreisträger und Direktor unseres Instituts. Im Auftrag dieser unumstrittenen Autoritäthierzulande solle er, so berichtete mir Matussek, eine schlagkräftige Gruppe auf die Beine stellen, um die zivile Nutzung der Atomkraft in der DDR voranzutreiben. Der Ministerrat habe hierfür ausreichend Mittel bewilligt. Er, Matussek, leite dieses Projekt, und mir als seinem Assistenten sei damit eine wichtige Position zugedacht. Auch Hertz habe sich nach mir erkundigt.
Matusseks Miene hatte einen verschwörerischen Zug angenommen.
– Hertz arbeitet ja an einem Standardwerk über die Kernphysik. Ich könnte mir vorstellen, dass er Ihre Unterstützung dafür gerne in Anspruch nähme!
Ausdauer und Fleiß vorausgesetzt, hatte ich eine akademische Karriere vor mir. Dann aber veränderte sich alles mit einem Schlag. Ein blasser schmalgesichtiger Beamter mit dem lang gezogenen Schädel eines Pferdes holte meinen Vater ab. Er trug einen schwarzen Ledermantel. Vater blieb gefasst, offenbar hatte er bereits einen Hinweis bekommen, aber die Warnung in den Wind geschlagen. Er umarmte mich zum Abschied und sagte, ich solle mich um Tante Frieda kümmern. Er verlasse sich darauf. Ich nickte. Durch das Fenster sah ich, wie der graue Wagen mit ihm im Fond davonfuhr.
Tante Frieda lebte in Freiburg, in den Westen übersiedeln, was er mir mit seiner dringlichen Mahnung nahegelegt hatte, wollte ich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht. So froh ich auch war, dass meine Mutter seine Festnahme nicht mehr miterleben musste, so verlassen fühlte ich mich nun ohne sie. Ich sprach mit den Nachbarn und Freunden. Aber ihnen war nicht zu trauen, ihr Mitgefühl hatte etwas Verkrümmtes. Man merkte ihnen die Überzeugung an, dass mein Vater in seinen Predigten zu weit gegangen war. Außerdem war davon auszugehen, dass einer von ihnen meinen Vater denunziert hatte. Natürlich war er als Pastor strikt gläubig, ihm jedoch die Mitgliedschaft in einer christlichen Untergrundbewegung anzulasten war absurd.Ihm fehlte einfach jegliche Geschmeidigkeit, er fühlte sich nur seinem Glauben verpflichtet. Darin blieb er unbeugsam.
Ich fuhr nach Leipzig und zog Professor Matussek ins Vertrauen. Er hatte mich das ganze Studium über fürsorglich betreut. Matussek legte mir beide Hände auf die Schultern, sagte, mein Vater habe zwar eine große Dummheit begangen, aber man sei sicher nicht nachtragend, wenn er sich mäßige. Mir prophezeite er eine glänzende Zukunft, die ich jedoch nicht durch Unvorsichtigkeiten aufs Spiel setzen dürfe. Auch meine Kollegen ließen durchblicken, dass sie von dem Vorfall wussten, über den aber nicht offen geredet wurde, als sei es ein Zeichen ausgeprägten Taktgefühls, diesen dunklen Fleck in meiner sonst makellosen Vita unerwähnt zu
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