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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bronski
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lassen.
    Bis dahin war ich nie auf Widerstand gestoßen, im Gegenteil, man hatte mich gefördert. Aber meinem Vater war Unrecht widerfahren, und die, auf deren Unterstützung ich gehofft hatte, legten mir Wohlverhalten nahe. Meine Situation am Institut hatte sich spürbar verändert und würde sich weiter verschärfen. Mein Vater würde nicht nachgeben, spätestens dann träfe mich der Bannstrahl einer Behörde, die keinen Widerspruch duldete.
    Alle Bemühungen, Vater in Bautzen zu besuchen, blieben ergebnislos. Ich könne ihm schreiben, hieß es. Was er von meinen Briefen wirklich sehen durfte, ließ sich nicht ausmachen. Seine Antworten auf meine besorgten Fragen blieben vage, mit Ausnahme der wiederholten Bitte, mich doch um Tante Frieda zu kümmern.
    Meine Eingaben und Beschwerden gingen ins Nichts, alle Möglichkeiten waren ausgeschöpft. Daher fasste ich einen Entschluss: Ich fuhr übers Wochenende nach Hause. Ich sichtete alle Briefe und sonstigen schriftlichen Aufzeichnungen, die mit uns und unserer Familie zu tun hatten. Was nicht in fremde Hände gelangen sollte, verbrannte ich in unserem Wohnzimmerofen.
    Dann nahm ich mir die Fotoalben vor. Die Bilder verleitetenmich dazu abzuschweifen, meine Erinnerungen wurden lebhaft. Vater vertrat immer klare Auffassungen, auch mir gegenüber hatte er sich als kantige Person erwiesen. Nie konnte ich ihm meine Leidenschaft für die Physik verständlich machen. Der Alte, Pastor, Küster, Chorleiter und Organist in einer Person, erhoffte sich für mich einen künstlerischen Beruf, wenn ich mich schon nicht für einen kirchlichen entscheiden wollte. Zahlen waren für ihn unanschaulich und tot. Zumindest aber profan.
    Schon als Kind sang ich in seinem Chor mit. Mein Talent für die Musik sei außerordentlich, sagte einer der erwachsenen Sänger meinem stolzen Vater. Ich verfügte über das absolute Gehör und konnte den Mitsängern für ihren Einsatz jeden vom Vater gewünschten Ton vorgeben. Er wollte jedoch nicht wahrhaben, dass für mich kein Gegensatz zu den Zahlen existierte. Im Gegenteil! Jeder Zahl war ein Ton, manchmal auch eine Tonfolge zugeordnet, die ich hören konnte, wenn sie aufgerufen wurde. Und das funktionierte auch umgekehrt. Zahlen schwebten durch den Raum, wenn unser Chor sang oder die Orgel spielte. Misstöne erschienen mir als schrundige, beschädigte Ziffern oder als Endlosbrüche, die es zu keinem ganzzahligen Ziel gebracht hatten. Vater leuchtete eine solche Verbindung nicht ein und er stand den Ideen, die ich mir angelesen hatte, skeptisch gegenüber, nach denen alles auf Erden und im gesamten Kosmos Maß und Proportion und daher Harmonie aufwies. Die Geometrie, so hatte ich bei Kepler gelesen, sei der Archetyp des Schönen. Durch ihre Regeln ließ sich der Zusammenklang der Dinge begreifen und in einem Bauplan darstellen.
    Zweifellos war das Universum schön. Es genügte doch schon, in den Himmel zu sehen. Den Sommer verbrachte ich mit meinen Eltern immer an der Müritz. Auf die heißen wolkenlosen Tage folgten klare Nächte, in denen sich das Firmament wie ein Schirm über dem weiten See aufspannte. Im Gesamtbild schien jeder Stern mit scharferKontur ausgestattet, die jedoch zu verschwimmen begann, wenn man einen einzelnen fixierte und die Intensität seines Lichts ab- und wieder zunahm, als sendete er Strahlen in unterschiedlicher Stärke aus. Ich ging gern nach Einbruch der Dunkelheit hinaus auf den Steg und legte mich auf die noch warmen Bohlen, um das Schauspiel zu genießen. Auch dabei war immer schon Musik im Spiel. In diesem abgelegenen Landstrich fern vom Verkehr und dem städtischen Getriebe äußerte sich nur die Natur. Rufe von Nachtvögeln tönten aus dem angrenzenden Wald, brummende Käfer und sirrende Mücken schwirrten umher, Grillen zirpten, das Wasser plätscherte und Wellen brachen sich schmatzend an den breiten Pflöcken des Stegs. Wer auch immer sich in dieses Zusammenspiel einbrachte, nie entstanden Missklänge. Die sich mischenden und überlagernden Geräusche erzeugten ein Klanggemälde, in dem zwar Solisten mit je unterschiedlichen Färbungen in den Vordergrund traten, in dem aber jeder darauf bedacht war, sich in das Ganze einzufügen.
    Je weiter der Abend fortschritt, desto ruhiger wurde es. Ich meinte dann ein Summen wahrnehmen zu können, das sich über den See legte. Vielleicht der Nachhall des verflossenen Tages, dessen letzte Geräusche von Ufer zu Ufer zurückgeworfen wurden? Oder vielleicht doch der warme,

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