Der Tod bin ich
getragene Alt der Erde, den Kepler ihr zugeschrieben hatte und der sich in einer lang gezogenen Welle nur einen Halbton auf und ab bewegte? Mich in die Vorstellung eines auf Harmonie beruhenden Universums weiter hineinzuversetzen fiel mir nicht schwer. Kein Ton trat für sich in die Welt, er existierte nur als Teil eines Chors von Schwingungen, die er erregte. Vater selbst hatte mir die Zusammenhänge erklärt. Wohlklang entstand nicht durch die scheinbar feste Höhe eines Tones, sondern erst durch die mitschwingenden Frequenzen der Naturtonreihe. Was da mitschwang, waren Töne, die das Gerüst unserer Harmonik bildeten, die Oktave, Quinte, Quarte und Terz vor allem. Jeder Ton, sagte Vater, schlageeinen weit gespannten Akkord an, in dem er den gesamten harmonischen Kanon mit sich bringe. Und natürlich entsprachen dieser wohlgeordneten Vielstimmigkeit ebensolche Zahlenverhältnisse: Auf dem Monochord, dem Instrument, das aus nur einer Saite bestand, ergaben sich die schlüssigsten Harmonien aus den einfachsten Größenproportionen: zwei zu eins die Oktave, drei zu zwei die Quinte und so fort.
So lag also Keplers Gedanke nicht fern, dass sich die Schönheit des Universums mathematisch fassen und in die Musik übertragen ließ, so wie eben auch die Idee, wenn ihr Wahrheit zukam, sinnlich erscheinen können musste. Ich richtete mich auf, schloss die Augen und hörte in den Himmel hinein. Und da war das vulkanisch tiefe, bebende Grollen von Saturn und Jupiter am einen Ende der Skala und das flirrende, flötenartige Pfeifen von Merkur am anderen. Dazwischen entfalteten sich die Register einer universalen Orgel, ein gleichlaufender Vielklang, der bei mir Angst und Ehrfurcht auslöste, zugleich aber eine verzehrende Sehnsucht, in diese Geheimnisse einzudringen.
Draußen schlug die Uhr. Ich durfte nicht weiter in meinen Erinnerungen schwelgen. Von den Fotos packte ich mir eine Auswahl in den Koffer. Viel Platz war nicht. Anderntags brach ich auf. Über Potsdam erreichte ich Kleinmachnow. Dort stieg ich in die S-Bahn. Die Linie fünf würde mich direkt nach Zehlendorf bringen, es sei denn, ich liefe in eine Kontrolle der Polizei. Wer ohne Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verließ, wurde mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft.
Ich hatte Angst. Alles kam mir verdächtig vor. Dazu bildete ich mir ein, dass mir meine Absichten ins Gesicht geschrieben standen. Ich hielt meinen Koffer zwischen die Beine geklemmt. Ein Flüchtling. Als ein Reisender im Ledermantel die S-Bahn betrat, stürmte ich in Panik aus dem Wagen. Mit der nächsten Bahn fuhr ich dannbis Zehlendorf durch. Ich war bis auf das Hemd durchgeschwitzt. Von dort aus machte ich mich zum Auffanglager in Marienfelde auf.
4.
Bradley Goldberg sah auf die Uhr. Der Konsul erwartete den Antrittsbesuch des Neuen. Joe Salantino sollte nicht die von Bonn aus operierende Gruppe von CIA-Agenten verstärken, er war mit einem Spezialauftrag von Langley nach Berlin in die Clayallee gekommen. Goldberg war aus Washington angewiesen worden, ihm die Räume zur Verfügung zu stellen, die er für seine Abteilung brauchte. Drei Büros waren hergerichtet worden, Sekretariat, Konferenzraum, Küche, Bad und vor allem war der Trakt vom Rest der Vertretung durch eine schwere Sicherheitstür abgetrennt. Auf dieselbe Weise waren auch die Kompetenzen verteilt: Goldberg war Salantino gegenüber nicht weisungsbefugt, er empfing seine Befehle direkt aus Langley.
Goldberg seufzte. Dieses Arrangement war symptomatisch für das, was ihm in letzter Zeit widerfuhr. Man vertraute den bewährten Kräften nicht mehr.
Es klopfte. Goldberg erhob sich, um seinem Besuch entgegenzugehen.
– Lieutenant Salantino, Sir.
Salantino trug Anzug und Krawatte.
– Freut mich, Sie kennenzulernen, Lieutenant. Setzen Sie sich!
Goldberg wies auf einen der Ledersessel, die er um einen Marmortisch herum hatte aufstellen lassen. Eine legere Atmosphäre beförderte jedes Gespräch. Er schob Salantino den Zigarettenspender zu.
– Bedienen Sie sich!
Lächelnd blickte er auf seinen Gast, der sich etwas steif auf der Kante des Sessels niedergelassen hatte.
– Und machen Sie es sich bequem.
Salantino zündete sich eine Zigarette an und ließ sich vorsichtig nach hinten in die weiche Polsterung sinken.
– Ich führe hier in Berlin seit Jahren die politischen Geschäfte für unser Land. Mag ja sein, dass sich durch die Distanz auch die Perspektive verschiebt, aber offen gesagt: Mir
Weitere Kostenlose Bücher