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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bronski
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ihre Brüste durch den dünnen Stoff ab und schaukelten im Rhythmus ihrer Armbewegungen. Aus dem Dunkel der Wohnung schälte sich ihre Gestalt wie auf einer Bühne heraus, dabei schien sie mir so nah, dass ich fast den Duft ihres Haars und den Parfümgeruch ihrer Seife wahrzunehmen glaubte. Sie war ganz konzentriert auf ihre Verrichtung. Und doch hatte ich den Eindruck, dass sie mir eine Aufforderung schickte. Mein Herz pochte, aber im selben Moment wusste ich, dass ich es nicht wagen würde, mich ihr zu nähern. Sachte drückte ich meine Zimmertür ins Schloss. Eine halbe Stunde später war alles dunkel. Auf leisen Sohlen schlich ich auf die Toilette.
    Zurück in meinem Zimmer, versperrte ich die Tür, holte das Notizbuch aus der Schublade, legte mich aufs Bett und nahm es in Augenschein. Es war ein in dunkelbraunes Rindsleder gebundenes Ringbuch. Eine Lasche mit Druckknopf diente als Verschluss. Zusätzlich hatte Petri seine Aufzeichnungen mit einem Gummiband gesichert, damit keiner der lose eingelegten Zettel verloren gehen konnte. Der abgewetzte Umschlag verriet, dass er mit dem robusten Teil schon länger arbeitete und es den Gebrauchsspuren zufolge wohl überallhin mit sich führte. Blätterte man hindurch, erkannte man rasch, dass die Notizen thematisch zu unterschiedlichen Konvoluten geordnet und durch farbige Register getrennt waren. Wahrscheinlich nahm er abgeschlossene Projekte heraus und archivierte die Blätter anderweitig. So gaben die Notizen also einen Überblick über Petris aktuelle Arbeiten, sie enthielten all die Skizzen und Einfälle, die noch zu keinem für ihn zufriedenstellenden Ende gediehen waren. Auffällig war die unterschiedliche Schrift, mit der Petri seine Aufzeichnungen führte. Vertiefte man sich genauer hinein, verstand man, dass erdas Buch bei jeder Gelegenheit benutzte, auf den Knien, im Zug, am Frühstückstisch, vielleicht sogar im Halbschlaf, denn manches war fast unleserlich hingekrakelt.
    Eine Abteilung war Ashton gewidmet. Petri hatte eine längere Unterhaltung mit ihm skizziert. Aus den Stichpunkten ging nicht mehr hervor, als ich schon wusste. Ashton wollte die Vielzahl der inzwischen dokumentierten Teilchen reduzieren, indem er nachzuweisen versuchte, dass sie aus grundlegenderen Bausteinen zusammengesetzt waren. Hierzu hatte Petri einige Berechnungen angestellt, die er jedoch allesamt wieder verworfen hatte, indem er sie durchstrich. Dann folgte ein kurzer Eintrag:
Brief von Gell-Mann
. Murray Gell-Mann, so wusste ich, lehrte Physik am Caltech in Kalifornien. Am Ende der Seite war jene Zeichnung eingefügt, die ich beim Mittagessen bemerkt hatte: Zwei Dreiecke waren so übereinandergelegt, dass sie die Form des sechseckigen Davidsterns ergaben. Darunter hatte Petri notiert:
Gott und Teufel sollen nur merken, wie symmetrisch sie inzwischen geworden sind!
Im Anschluss daran hatte er einige Rechenansätze aufgeführt, die er mit einem zufriedenen
schon besser!
kommentierte.
    Zunehmend müde, aber mit verbissenem Interesse blätterte ich mich durch das Büchlein. Das letzte, schwarze Register leitete eine Abteilung ein, die mit
allgemeine Feldtheorie
überschrieben war. Obwohl er mir gegenüber abgestritten hatte, sich noch für dieses Thema zu interessieren, waren hier offenbar alle Überlegungen gesammelt, die Petri zur Weltformel angestellt hatte. Möglicherweise hatte er die Arbeiten an dem Problem auch wieder aufgegeben. Ein großer Teil bestand aus Matrizen, der tabellarischen Anordnung von mathematischen Objekten, mit denen sich Berechnungen durchführen ließen. In diese komplexe Materie einzudringen war ich außerstande. Zahlen und Aufzeichnungen verschwammen mir zudem, ich nickte ein, wachte wieder auf und fuhr fort, bis ich in ein Zwischenreich eintauchte,in dem sich Wachbewusstsein und Traum ununterscheidbar miteinander zu verflechten begannen.
    Lebhaft stand mir plötzlich vor Augen, wie es mein Vater damals vor vielen Jahren unternommen hatte, die Orgel in der kleinen Lichtwitzer Kirche zu stimmen. Zunächst wurde das Pfeifenwerk ausgebaut und gereinigt. Nachdem alles wieder zusammengesetzt war, ging er daran, die einzelnen Pfeifen zu stimmen, indem er die Ringe oder Deckel an ihrem oberen Ende verschob. Er setzte sich anschließend zurück an den Orgeltisch, spielte sie einzeln an, intonierte ein Stück oder ließ einfach nur brausende Akkorde aufeinanderfolgen. Mein Vater hatte großen Wert darauf gelegt, dass ich bei dieser Arbeit zusah und zuhörte. Ich

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