Der Tod bin ich
hätte, wenn seine Familie in Gefahr gewesen wäre, stand dahin. Das größte Opfer, das ich für ihn bringen konnte, war, ihn nie damit zu konfrontieren, dass er seine letzten ruhigen Lebensjahre mir verdankte. Wir schrieben einander, wir telefonierten, und immer bat ermich, ihn keinesfalls zu besuchen. Man würde mich festsetzen, so wie ihm das widerfahren war, davon zeigte er sich fest überzeugt. Aber ich war ja längst ein Gefangener, und zu dem falschen Spiel gehörte, dass ich ihn tatsächlich nicht mehr sehen durfte, ohne ihm diese Illusion zu rauben. Diejenigen, die unsere Briefe lasen und unsere Gespräche abhörten, ließen den störrischen alten Mann in Frieden, den Preis dafür bezahlte ich.
Natürlich wusste ich, dass man mich als unsicheren Kantonisten einschätzte, der nur das tat, was man ihm abzwang. Ich spielte mit dem Feuer, auf dem Spiel stand nicht nur meine wissenschaftliche Karriere im Westen, wie Malikow klargemacht hatte, auch mein Leben. Eine Alternative hatte ich nicht, ein akademischer Posten in Ostberlin, Dresden oder Leipzig, wie er linientreuen Überläufern oder Rückkehrern angeboten wurde, wäre mir mit Sicherheit verwehrt geblieben. Aber dieser Bodensatz an Widerständigkeit und Stolz machte mich nicht zum Helden. Mein Vater in seiner fest gefügten Weltsicht meinte zwar, man müsse sich das Außerordentliche abverlangen. Man könne über sich hinauswachsen, statt sich bei Bedrohungen flachzulegen. Was mich in diesen Momenten großen Zweifels antrieb, war die Hoffnung, in einem anderen Bereich, meinem Fach, Besonderes leisten zu können. Ich hatte in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und stand kurz davor, das Problem der Zweiteilung und Symmetrieverminderung, das unsere Fortschritte in einer allgemeinen Feldtheorie blockierte, lösen zu können. Die Wissenschaft, so fand ich, war meinen Einsatz wert. Von diesen Arbeiten allerdings ließ ich zu meinem Schutz nichts nach außen dringen. Meine Fortschritte besprach ich ausschließlich mit Kaltenbrunner.
An diesem Abend war das Vereinstreffen besonders ausufernd und langweilig. Die Jahresversammlung wurde abgehalten. Der Schatzmeister vorne las den Kassenbericht ab. Alle Mitglieder, die ihren Jahresbeitrag noch nicht entrichtet hatten, wurden namentlichaufgerufen und keiner wollte darauf verzichten, eine Entschuldigung für das Versäumnis zu improvisieren.
Es war bereits spät geworden. Eine herbstfrische Nacht kündigte sich in dem kalten Luftzug an, der durch die Fensterritzen zog. Ich setzte mich schließlich etwas abseits und blätterte in den Zeitungen, die, in hölzerne Halter eingespannt, an der Garderobe hingen. Vor zwei Tagen war Kaltenbrunner gegen Mittag und völlig aufgelöst in das Institut gekommen. Im Englischen Garten unweit seines Hauses hatte er einen Toten gefunden. Die Untersuchungen deuteten darauf hin, dass der Mann sich selbst umgebracht hatte. Rätselhafterweise konnte man seine Identität nicht ermitteln. Er trug keine Papiere bei sich und war anscheinend alleine unterwegs gewesen. Der Herkunft seiner Kleidung und seines Reiseführers zufolge war er Amerikaner und wohl nach Deutschland gekommen, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Um weiterzukommen, hatte die Polizei eine Zeichnung des Toten veröffentlichen lassen, die mit der Aufforderung verbunden war, der Ermittlungsbehörde sachdienliche Hinweise zu geben, die zu einer Identifizierung führen könnten.
Ich strich die Zeitung glatt und studierte die Zeichnung. Das runde Gesicht und die tropfenförmige Brille lösten einen Erinnerungsreiz in mir aus. Ein leerer Reflex jedoch. Wie ein aus Kabelgewirr heraushängendes loses Ende, das sich nicht mehr anschließen ließ.
Helmut setzte sich mir gegenüber. Ich schob ihm meine Zigarettenschachtel zu.
– Interessante Lektüre?
Ich zeigte ihm die Zeichnung.
– Und, fragte er. Was haben wir damit zu tun?
Aufmerksam geworden blickte ich auf. Ich zuckte die Achseln.
– Zeitverschwendung. Kann ich eine Zigarette haben?
Ich verstand nicht, was er mir sagen wollte, und wies auf die Packung, die bereits vor ihm lag. Helmut strich sich die blonden Strähnenaus dem Gesicht, klopfte sich eine Zigarette heraus und steckte anschließend das für ihn bestimmte Päckchen ein. Hinter uns trat eine Kellnerin an die Theke, um eine Bestellung zu bonieren. Danach beugte sie sich zum Küchenfenster hinunter.
– Ein Tee mit Rum.
Es war wie ein Funkenschlag in meinem Hirn. Plötzlich sah ich ihn wieder vor
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