Der Tod bin ich
Anforderungen und Zwängen ausgesetzt, denen ich nicht dadurch entkam, dass ich ihnen Folge leistete, weil sie mich wie einen Fisch in die Reuse immer weiter in die Enge trieben. Solange ich das alles nicht grundlegend infrage stellen konnte, solange ich einen Ausstieg ohne Rücksicht auf persönliche Verluste nicht einmal zu denken wagte, war ich diesem Spiel wehrlos ausgeliefert.
Ich überschlug meinen bisherigen Stand, schätzte, dass ich noch etwa acht Monate benötigen würde, um meine Arbeit abzuschließen. Dann würde ich einen Schlussstrich ziehen, und sei es auch durch Selbstanzeige. Bis dahin allerdings musste ich Wohlverhalten an den Tag legen.
Am Schwabinger Bach setzte ich mich auf einen Baumstumpf. Er floss in einem steinigen Bett, dessen Ufer von dichtem Gesträuch und hochgewachsenen Bäumen gesäumt war. Der unruhige Untergrund bildete sich auf der Oberfläche des flachen Gewässers ab, wirbelte, strudelte, warf hier sanfte, glatte und dort gekräuselte, von Blasen durchsetzte Wellen auf, bildete einen ruhig auslaufenden Saum am flachen Ufer, zwängte sich rauschend, an Tiefe gewinnend zwischen felsigen Engstellen hindurch und zerfiel so in mannigfache Einzelerscheinungen, wenn man sich ihnen widmete, wurde jedoch sofortwieder zur Einheit, wenn man die Aufmerksamkeit von ihnen zurücknahm. Sicher ließ sich das physikalisch ausdrücken, welchen Ton das Wasser durch seine Reibung an steinernen, hölzernen oder sandigen Widerständen erzeugte, sicher würde man dann eine Vielzahl unterschiedlichster Frequenzen feststellen, die zusammengenommen sich in keine Tonart fügten. Aber wer brachte das fertig? War es die Natur selbst oder unser wählerisches Gehör, dass sich der Bach wie ein in sich gestimmter Klangkörper verhielt, an dem kein Misston wahrzunehmen war?
Und plötzlich, vielleicht zum ersten Mal, wurde mir klar, dass ich diese Wahrnehmung der Natur und ihrer Erscheinungen von meiner Mutter gelernt hatte. Lange hatte ich nicht mehr an sie gedacht. Die dominierende Figur in unserer Familie war stets mein Vater gewesen. Ihm hatte sie sich vollständig untergeordnet. Er bestimmte, seine Urteile galten und seine Arbeit war zu unterstützen. Das alles nahm sie klaglos hin. Sie starb unerwartet an einer Grippe, die sich zur Lungenentzündung auswuchs. Ich war damals fünfzehn Jahre alt.
Das Bild, das ich von ihr noch im Kopf hatte, war fast bäuerlich. Kopftuch, Schürze, Gummistiefel und ein Gartengerät in der Hand. Dabei hatte sie Gesang studiert. Kurz nach ihrer Ausbildung erkrankte sie an Tuberkulose. Zwar wurde sie geheilt, aber ihre Lunge blieb geschwächt, und an eine professionelle Laufbahn als Sängerin war nicht mehr zu denken. Meinen Vater lernte sie im Chor kennen. Mit Sicherheit war ich zu jung, um das, was sie für uns tat, schätzen zu können. Sie war eben da, bis sie uns zu früh verließ.
Der Garten allerdings blieb immer ihr Bereich. Dort war sie so ganz bei sich und verbrachte viel Zeit in ihm. Sie kannte die Pflanzen, wusste die Bodenbeschaffenheit und die verschiedenen Jahreszeiten für ihr Gedeihen zu beurteilen und welche Pflege sie benötigten. Für alles, was sie tat, nannte sie eine Regel, und dennoch reichte keine Regel weiter als über den unmittelbaren Umkreis eines Gewächseshinaus. Diese Regeln lieferten nur scheinbar eine Erklärung, warum ihr Garten so gut gelang, denn sie waren von niemand anderem nachzuvollziehen. Eine Rose brauchte einen sonnigen Standort, tiefgründigen, feuchten Boden. Die Erde sollte nährstoffreich sein, aber nicht zu viel, denn das machte die Pflanze anfällig für Schädlinge. Wuchs sie dennoch nicht, war der Platz vielleicht zu windig, der Pflanzabstand zu gering oder die Nachbarschaft einer anderen Pflanze nicht förderlich. Nach diesem Prinzip vervielfältigten sich ihre einfachen Hinweise, sie wucherten, weil es zu jedem Grundsatz einen Gegensatz gab, und wer sie nachvollziehen wollte, musste schließlich anerkennen, dass sie nicht mit ihren Regeln, sondern mit der gefühlsmäßigen Einschätzung des Ganzen richtig lag. Ihre Regeln erfüllten eigentlich nur den Zweck, über ihren Garten reden und mehr über ihn sagen zu können als eben nur das, dass er schön und schwierig zu pflegen war.
Ihr größter Stolz war eine Teerose. Es handelte sich um eine alte Sorte aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Catherine Mermet genannt wurde. Kenntlich war sie an ihrem pfirsichrosa Blütenkelch. Ihr Duft erinnerte tatsächlich an Tee,
Weitere Kostenlose Bücher