Der Tod des Landeshauptmanns
stieg einer mit seinem Stiefel drauf und zerquetschte sie vor ihren Augen oder stieß sie weg, wenn sie hingriff.“ Irgendwann wurde es Emily, seiner Frau, zu viel und sie bat ihn, doch das Thema zu wechseln. Joshua wusste, wie nahe ihr diese Geschichten gingen und gab nach.
Als sie aufstanden, fiel Joshuas Blick auf die vielen Tageszeitungen, die neben dem Eingang auf Zeitungsständern hingen. Er nahm die größte von allen zur Hand, es war „Die Presse“, jene Zeitung, die auch seine Eltern zuhause gelesen hatten, und blickte auf die erste Seite. Die dominierende Überschrift betraf Kurt Waldheim – und er wusste gleich, um wen es sich da handelte, schließlich hatte der Österreicher zwei Amtsperioden als UNO-Generalsekretär in New York gedient. Einmal war Waldheims Frau sogar in sein Geschäft auf der Second Avenue gekommen und hatte eine wunderschöne Vase von Kolomann Moser gekauft. Joshua überflog den ersten Absatz. Da war von einer „Wehrstammkarte“ die Rede, von Waldheims „SA-Zugehörigkeit“ von seinem Aufenthalt in der Nähe von Saloniki, wo damals Tausende Juden verschleppt und umgebracht worden waren. Und dann fiel ihm noch ein Artikel auf Seite eins auf. „Haider will nicht FPÖ-Obmann werden“, stand da zu lesen. „Haider“, dachte Joshua, „Haider?“ – den Namen habe ich doch schon einmal gehört. Doch viel mehr Zeit gab ihm die Familie nicht, Emily und David wollten endlich in die Stadt gehen. So gab er nach.
Joshua Krimnick hatte die Kärntner Straße als Fußgänger-zone kaum in Erinnerung. 1968, als er sich in Wien nach Kunstgegenständen für seinen Antiquitätenladen umgesehen hatte, fuhren dort noch Autos, die Gehsteige waren schmal, daran erinnerte er sich, aber es waren auch viel weniger Menschen unterwegs. Jetzt, im April 1986, konnte man ungehindert von einer Seite zur anderen gehen, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Am Stephansplatz sahen sie den Abgang zur U-Bahn. Auch die hatte es in den 1960er Jahren nicht gegeben, und Joshua war neugierig zu sehen, wohin man aus dem Zentrum der Stadt fahren konnte. Er überredete seine Familie, mit ihm nach unten zu gehen. Auf dem Fahrplan entdeckte er die Station „Nestroyplatz“ – in nur fünf Minuten würden sie dort ankommen, wo die Krimnicks bis zum Einmarsch Hitlers in Österreich gewohnt hatten. Als sie am Nestroyplatz ausstiegen, wusste Joshua sofort Bescheid. Ein paar Schritte stadteinwärts, dann nach rechts hinein und sie würden in der Zirkusgasse sein, wo die Familie Krimmich gewohnt hatte. „Kommt, ich zeig’ euch meine alte Wohnung“, sagte er und schon trottete die kleine Gruppe hinter ihm her, als wäre er ein Fremdenführer. Vor dem Haus Nummer 11 blieben sie stehen. „Da ist es, auf Tür 9.“ Erst einmal wagte niemand etwas zu sagen. Dann platzte David in die Stille: „Sollen wir nicht anläuten, vielleicht können wir uns die Wohnung ansehen?“ Und noch ehe die anderen die Idee als undurchführbar verwerfen konnten, hatte David schon auf den Klingelknopf gedrückt. Nach wenigen Sekunden meldete sich die Stimme einer Frau. Joshua stellte sich kurz vor, entschuldigte sich und fragte, ob es wohl möglich sei, nur ganz kurz nach oben zu kommen. Doch die Frau erwiderte mit barscher Stimme durch die Gegensprechanlage: „Lassen Sie mich doch in Ruhe. Ich will mit diesen Sachen nichts zu tun haben.“
Den Rest des Tages verbrachten sie abwechselnd in Gaststätten, Kaffeehäusern und Antiquitätenläden. Als sie schließlich ziemlich erschöpft wieder im Hotel ankamen, setzte sich Joshua noch in den Salon, bestellte einen „kleinen Braunen“ und nahm wieder ein paar Zeitungen zur Hand. Am Vormittag hatte ihm die Familie keine Zeit gelassen, die Artikel genauer durchzulesen, jetzt, hoffte er, würde ihm einfallen, warum ihm der Name Haider so bekannt vorkam. Aber in den Artikeln selbst gab es keinen Hinweis darauf. Der Mann war Landesparteisekretär in Kärnten, gerade 36 Jahre alt, offenbar ziemlich beliebt, den anderen Parteien schien er ständig auf die Zehen zu treten … aber auf all das konnte sich Joshua Krimnick keinen Reim machen.
Als er wieder in seinem Zimmer war, geisterte der Name immer noch in seinem Kopf herum. Joshua öffnete seinen Hartschalenkoffer, den er nur halb ausgepackt hatte, und zog ein vergilbtes, stark abgegriffenes Notizbuch heraus. Er hatte das Buch auf all seinen Österreich-Reisen dabei, obwohl er nicht genau wusste, warum er es immer mitnahm. Es war für ihn wie ein
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