Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
hauptsächlich für ihn gearbeitet.“
Er dankte ihr und wollte weitergehen, als sie leise sagte: „Es gibt so viele Verrückte in dieser Stadt, vor allem hier im Prater. Ich habe meine Lieblinge nicht nur einmal dabei erwischt, wie sie Menschenknochen abgenagt haben. Deshalb bin ich froh, dass Napoleons Leichnam anständig begraben werden wird. Denn die meisten Toten verschwinden hier in den Käfigen der Raubtiere.“
Sogleich kam Gustav ein schrecklicher Gedanke.
„Haben Sie in letzter Zeit Menschenknochen in den Käfigen gefunden?“
„Sie fürchten, dass Leonie …“ Ihre Augen bekamen einen geheimnisvollen Glanz. „Keine Angst, mein Herr, ich war nicht eifersüchtig auf die Kleine, obwohl Napoleon sie fast genauso sehr geliebt hat wie mich. Seine Gefühle für sie waren jedoch mehr väterlicher Natur. Im Ernst, ich habe sie nicht meinen Kätzchen zum Fraß vorgeworfen. Die letzten menschlichen Gebeine habe ich vor etwa einem halben Jahr aus dem Käfig ent-fernt.“
Schaudernd und in der Hoffnung, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, verließ Gustav die unheimliche Frau.
Vor dem Lattenzaun, der die Menagerie abschirmte, hatten sich einige Gratiszuschauer versammelt. Meist Kinder oder Halbwüchsige versuchten, durch den Zaun einen Blick auf die wilden Tiere zu erhaschen. Gustav entdeckte unter den neugierigen Zaungästen auch einige erwachsene Männer.
Er ging hinüber zur Hütte des Schnellfotografen und fragte ihn, ob er Fotos von der Eröffnung des Riesenrades gemacht hatte.
Bereitwillig zeigte ihm der Fotograf die Bilder, die er bereits entwickelt hatte. Meistens war Gabor Steiner, umringt von den durchlauchtigsten Herrschaften, darauf zu sehen. Auf keinem der Fotos sah man die Leiche.
Enttäuscht spazierte Gustav weiter Richtung Tatort.
„Halt! Halt! Flohzirkus! Der seltsamste Schauakt der Erde“, schrie ein schmächtiger Ausrufer in weißem Anzug und schwarzem Hemd.
Flohzirkus? Hatte davon nicht etwas in Sylvias Nachricht gestanden?
In diesem Moment versuchte eine sehr junge Ausruferin in einem kurzen Röckchen, ihn mit süßen Komplimenten und Versprechungen in das Zelt einer Hellseherin zu locken.
Gustav war noch nie bei einer Wahrsagerin gewesen, da er deren Prophezeiungen für reinen Schwindel hielt. Aber da Sylvia ihm geraten hatte, die Hellseherin im Wurstelprater aufzusuchen, drückte er der neckischen Kleinen ein paar Heller in die Hand und betrat das Zelt.
Drinnen war es ziemlich dunkel und furchtbar heiß. Die Zeltplanen waren mit dicken Teppichen behängt. In der Mitte stand ein kleines Tischchen, das ebenfalls mit einem Teppich zugedeckt war. Auf dem Tisch stand eine große Glaskugel, umgeben von einem halben Dutzend Kerzen.
Er nahm Platz. Erst jetzt sah er das Gesicht der Frau, die ihm gegenüber saß. Er fuhr hoch, starrte sie verblüfft an. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Bleiben Sie doch sitzen, Euer Gnaden“, sagte Sylvia.
Obwohl sie stark geschminkt war und ihr schwarzes Haar unter einem bunten Tuch versteckte, hatte er sie sogleich wiedererkannt.
Sie murmelte etwas vor sich hin und machte ein paar komische Verrenkungen. Ihre zahlreichen Armreifen klapperten bei jeder ihrer Handbewegungen und ihre großen Ohrringe schaukelten bei jeder Kopfbewegung. Endlich blickte sie ihm direkt in die Augen.
„Entspannen Sie sich und hören Sie mir zu.“
„Sie haben mir eine Nachricht geschickt.“ Gustavs Stimme zitterte.
„Ja. Und Sie sind gekommen.“ Ihr Lächeln brachte ihn fast um den Rest seines Verstandes.
„Ich war mir zu… zuerst nicht sicher …“
„Und jetzt sind Sie sich sicher?“
Zu seiner Verlegenheit verspürte er eine Erregung. Er atmete tief durch und fragte mit belegter Stimme: „Sie haben etwas in Erfahrung bringen können?“
Sylvia senkte ihre Lider. Fasziniert starrte er auf ihre langen Wimpern.
„Vielleicht. Zuerst möchte ich Sie besser kennenlernen. Verraten Sie mir Ihr Geburtsdatum?“
„8. Dezember 1862.“
Mit ihren langen, schlanken Fingern drehte sie die Glaskugel.
„Sie sind unter einem glücklichen Stern geboren, sind ein tapferer Mann und haben ein gutes Herz.“
Gustav entkam ein kleines Grinsen.
„Sie sind ein Ungläubiger, ein Skeptiker, genau das finde ich sehr reizvoll. Mal schauen, ob ich Sie überzeugen kann.“ Anstatt auf ihre Glaskugel sah sie ihm tief in die Augen. Die Flamme einer Kerze beleuchtete ihr dunkles Gesicht und ließ ihre Pupillen golden schimmern.
„In der guten Gesellschaft sind Sie gern
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