Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
nebeneinander liegenden Gastgärten. Beim Anblick eines Faulpelzes, der an einen Baum gelehnt in aller Ruhe eine Zigarette rauchte, während ein Dutzend Gäste verzweifelt nach ihm rief, musste er fast lachen. Ein anderer Kellner schnäuzte sich gerade genüsslich in die Finger. Bestimmt würde er sich nicht die Hände waschen, bevor er weiterarbeitete. Als er sah, wie dem Kerl der Schweiß von seiner Stirn auf die Hühnerkeulen tropfte, die er seinen Gästen servierte, verging ihm endgültig der Appetit auf ein Hendl.
Aus dem Lokal nebenan klangen süßliche Walzerklänge herüber. Die Strauss-Dynastie hat die österreichische Musik fest im Griff, dachte Gustav. Der Walzer, der sich aus dem oberösterreichischen Landler entwickelt hatte, war zurzeit der beliebteste Tanz beim Volk. Fröhlich drehten sich die Paare mit mehr oder weniger anmutigen Bewegungen im Dreivierteltakt auf der kleinen Bühne.
Amüsiert beobachtete er, wie nach jeder Runde abkassiert wurde. Die Tänzer hatten fünf Kreuzer zu bezahlen. Deshalb wurde dieser Tanz im Volksmund Fünf-Kreuzer-Tanz genannt. Manchmal zahlte sogar die Dame, die meist ein Stubenmädchen oder eine böhmische Köchin war und ihren schlecht besoldeten Soldaten freihalten musste. Oft hießen diese Mädel Marie. Mittlerweile galt dieser hübsche Name bereits als Synonym für Geld bei den Wienern.
Manchen Leuten, wie seinem Freund Rudi zum Beispiel, war der Volksprater seit der Weltausstellung zu nobel geworden. Gustav konnte hier nichts Nobles entdecken. Ein eleganteres Publikum verkehrte im „Goldenen Kreuz“, doch er hatte keine Lust, viel Geld auszugeben, wollte einfach irgendetwas essen.
„Brot, Schani, Brot“ hörte er eine Kinderstimme rufen. Ein zehn- oder elfjähriger Bub mit weißer Bäckermütze bot Brezel und frisches Gebäck feil.
Gustav kaufte ihm eine Brezel ab und schlenderte weiter durch den Vergnügungspark, beobachtete einen Soldaten, der sich an ein Dienstmädchen heranmachte, das lustlos einen Kinderwagen vor sich herschob, und sah spielenden Kindern zu.
Vor einem neu eröffneten Ringelspiel standen adrett gekleidete Mädchen mit Strohhüten und wohlgenährte Buben in Matrosenanzügen Schlange. Auch vor dem benachbarten Kasperltheater hatte sich eine lange Schlange von Kindern gebildet. Gustav musste unwillkürlich daran denken, wie er zum ersten Mal, im zarten Alter von vier Jahren, den Wurstel oder Kasperl, wie er heute genannt wurde, besuchen hatte dürfen. Angeblich hatte er sich vor dem Krokodil gefürchtet und furchtbar geweint, behauptete seine Tante Vera.
Vor dem Präuscher’schen Panoptikum begegneten ihm die siamesischen Zwillinge und zwei Liliputaner. Er dachte an seinen Fall und stellte ihnen ein paar Fragen. Im Nu versammelten sich andere Artisten und Schausteller um ihn. Sogar die Dame ohne Unterleib beugte sich von ihrem Podest herab und mischte sich ein. Gustav erfuhr nicht viel Neues. Alle kannten die kleine Baronesse Leonie von Leiden, aber keiner schien sie in den letzten Tagen gesehen zu haben. Alle waren völlig geschockt wegen der Ermordung Napoleons und waren sich einig, dass es praktisch jedermann getan haben könnte, da das Riesenrad in der Nacht nicht bewacht worden war und der Zaun rundherum kein echtes Hindernis darstellte.
Vor einer der Menagerien saß die Löwenbändigerin Miss Senide, eine kräftige vollbusige Frau um die dreißig mit schönen ausdrucksvollen dunklen Augen.
Es war ein offenes Geheimnis, dass der arme Napoleon seit Jahren unglücklich in Senide verliebt gewesen war. Und obwohl sie ihn nie erhört hatte, kursierten im Wurstelprater jede Menge Witze über Napoleon und Senide.
Gustav kannte die Löwenbändigerin nur vom Sehen. Da er sie für eine Engländerin hielt, sprach er sie in seinem fast perfekten Englisch an, fragte, wann sie Napoleon das letzte Mal gesehen hatte und ob er vor jemandem Angst gehabt hatte.
Sie machte einen niedergeschlagenen Eindruck, als sie ihm mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme auf Deutsch antwortete: „Napoleon war ein richtiger Gentleman, sehr freundlich und höflich. Er hatte sicher keine Feinde. Aber es gibt so viele böse Menschen, nicht nur Männer ... Das Halstuch, mit dem er ermordet worden ist, gehörte bestimmt einer Frau.“
Ihr trauriger Gesichtsausdruck brachte Gustav auf den Gedanken, dass der Zwerg vielleicht doch Chancen bei ihr gehabt hätte.
„Haben Sie schon mit Max Polanski gesprochen?“
Gustav verneinte.
„Napoleon hat in letzter Zeit
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