Der Tod hat eine Anhängerkupplung: Ein Campingkrimi (German Edition)
Grad im Sommer. Besser geht es nicht! Ich beleuchtete die Regale, und tatsächlich, da lag noch eine Flasche Rotwein ganz rechts im zweiten Regal. Ich hatte in den Osterferien offenbar eine übersehen.
Tristan und Edda kamen von Schulenkämpers zurück. Ich hätte jetzt noch auf Zähne putzen bestehen müssen, aber ich akzeptierte einfach die flüchtigen Gutenachtküsschen und hoffte, dass sie wirklich gut schlafen konnten.
Ich zog den Reißverschluss zu, fand in meinem Aktenkoffer die Lesebrille, und nun genoss ich Annes kleine Kerzen-Armada umso mehr. Die Lesebrille erlaubte mir, das Etikett zu entziffern. Ich hatte einen Chianti Classico gefunden, Casanuova di Nittardi, Jahrgang 2000 , ein sortenreiner Sangiovese. Die Lagerung unter dem Wohnwagen hatte ihm entweder nicht geschadet, oder sie hatte ihm sogar gutgetan. Ich hielt meine Nase in das Glas, vernahm einen vollen Duft von Kirschen, Vanille und Toscana … und ein Geräusch, das ein Glas Chianti nicht verursachen kann. Es war das Ratschen des Reißverschlusses.
»Komm rein, Lothar. Ein Glas Wein?«
»Ja, das kann ich jetzt gebrauchen.«
Lothar nahm sich ein Rotweinglas aus dem Sideboard. Camping ist zwar die Urlaubsform des improvisierenden Abenteurers, aber auf gute Weingläser muss man bei uns trotzdem nicht verzichten. Es gibt sechs schöne große, dünnwandige Rotweingläser, sechs etwas kleinere elegante Weißweingläser und vier sehr schlanke Sektgläser, allesamt mundgeblasen, aber das ist nichts Besonderes. Fußgeblasen, das wäre etwas Besonderes.
Lothar hatte den Wein sofort als Rotwein identifiziert und daher die ganz linke Sideboard-Tür geöffnet, um sich ein Rotweinglas herauszunehmen. Nach Jahren der Nachbarschaft kennt er sich in unserem Mobiliar bestens aus.
Zwei Minuten später saß er mit gefülltem Rotweinglas vor mir und sagte: »Ich versteh da was nicht.«
»Was denn?«
Er stellte sein Glas wieder ab, lehnte sich in dem blau-weiß gestreiften Campingstuhl zurück und sagte: »Gaby hat plötzlich losgeheult.«
»Wie, losgeheult?«, fragte ich verblüfft.
»Na, als ich erwähnt habe, dass Coen umgebracht worden ist, da hat die losgeheult! Was guckst du denn jetzt so blöd?«
»Anne hat auch geweint.«
Lothar trank einen Schluck aus seinem Weinglas, kontrollierte noch kurz die Farbe des edlen Tropfens, dann stellte er das Glas nachdenklich auf den Tisch, schaute mir in die Augen und fragte: »Was war da eigentlich an Pfingsten los?«
Sonntag
8
Der Morgen war grau, das Haus war grau, und der Name war ebenfalls grau! In Zeeland wollen Menschen ein Zuhause haben, deshalb haben Häuser in Zeeland Namen. Das Haus, in dem Piet die erste Etage und das Dachgeschoss bewohnte, hieß De grise dolfijn , und es lag, oder besser es stand, am Turfkaai. Die Straße, an der das Stadtzentrum von Middelburg an den Binnenhaven grenzte, war in die verschiedensten kaaien unterteilt: Turfkaai, Houtkaai, Londensekaai und so weiter. Der Turfkaai lag zwischen Vismarkt und Herenstraat. Wenn sich ein Haus in Middelburg einen Bauplatz hätte auswählen können, hätte es wahrscheinlich den Turfkaai gewählt. Das Haus war tatsächlich grau, aber das bezog sich nur auf die Farbe der Fassade. Piet hätte sich eine solche Wohnung niemals leisten können, aber die alte Dame, der es gehörte, hatte den bärbeißigen Polizisten ins Herz geschlossen. Juliana Joosses hatte ihre Namenspatronin, die Königinmutter, überlebt, aber sie war auch sieben Jahre später geboren worden, am 30 . April 1916 . Juliana Louise Emma Marie Wilhelmina, Prinzessin von Oranien-Nassau, Herzogin zu Mecklenburg, war von 1948 bis 1980 Königin der Niederlande gewesen, und sie war am 20 . März 2004 in Soestdijk gestorben.
Juliana Joosses war jetzt jugendliche neunzig Jahre alt, und Piet van Houvenkamp war ihr Beschützer. Das glaubte er.
Vor fünfzig Jahren wäre er wahrscheinlich ihr Liebhaber gewesen, das glaubte sie! Und er war … ihr Vorleser, ihr Einkäufer, ihre Kur gegen die Demenz. Er zahlte genau siebenhundert Euro Miete für einhundertvierzehn Quadratmeter auf zwei Etagen. Das war nicht nur in Middelburg untypisch, das war europaweit ein Schnäppchen, und das mit einem unbeschreiblichen Blick auf den Binnenhaven und nicht einmal drei Minuten Fußweg zum Markt, zum Rathausturm und zu den tollsten Kneipen, die man sich nur vorstellen konnte.
In der Mitte von Piets Wohnzimmer stand ein großes
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