Der Tod hat einen Namen
Flügel zu, der auf einem kleinen Podest stand. Es handelte sich um einen Steinway. Gedankenverloren öffnete sie die Tastatur und spielte eine kurze Tonfolge. "Hervorragend g estimmt."
"Haben Sie etwas anderes erwartet?" fragte Victor.
"Nein, eigentlich nicht." Pamela blickte aus einem der großen, von Halbbogen gekrönten Fenstern zu den Klippen hinüber. Draußen bogen sich die Bäume und Sträucher im Sturm fast bis zum Boden. Der Himmel war mit dunklen, bedrohlich wirkenden Wolken bedeckt.
Sie wandte sich Victor zu. "Ihre Mutter erwähnte, daß der Fl ügel im Salon Ihrer Schwester gehört."
"Ja, er gehörte Dinah", bestätigte Dr. Callison. "Eigentlich war Dinah meine Stiefschwester. Ich war neun, als mein Vater Kathl een heiratete. Dinah, Kathleens Tochter, zwei Jahre jünger. Von Anfang an verstanden wir uns gut. Schon bald waren wir unzertrennlich." Gedankenverloren ging er zum Flügel und legte eine Hand auf die elfenbeinfarbenen Tasten.
"Dann ist Dinah also tot?"
Victor wandte sich wieder der jungen Frau zu. "Wir wissen es nicht", sagte er. Seine Stimme klang plötzlich dunkel. "Dinah ist vor zehn Jahren verschwunden. Wir feierten noch ihren siebzehnten Geburtstag. Gegen zwölf wünschte sie uns eine gute Nacht und ging auf ihr Zimmer. Niemand wunderte sich darüber, als sie am nächsten Morgen nicht zum Frühstück kam. Dinah gehörte nie zu den Frühaufstehern. Doch dann stellten wir fest, daß sie spurlos verschwunden war. Ihr Bett war unberührt, doch ihr Nachthemd lag zerknauscht auf dem Boden. Wochenlang wurde die ganze Umgebung abgesucht. Schließlich hieß es, daß sie vermutlich noch einmal an den Strand hinuntergegangen ist. Die Polizei nimmt an, daß sie ertrunken ist."
"Und Sie?" fragte Pamela erschüttert.
"Ich kann nicht an diese Version glauben", erwiderte ihr Begleiter. "Dinah wäre niemals in ihrem Ballkleid zum Strand gelaufen. Zudem regnete es in jener Nacht." Er stieß heftig den Atem aus. "Was immer damals auch geschehen sein mag, es liegt im Dunkeln." Er sah sie an. "Bitte erwähnen Sie meiner Stiefmutter gegenüber nicht, daß ich mit Ihnen über Dinah gesprochen habe."
"Schon gut", sagte Pamela. Sie blickte zu den Klippen. Seku ndenlang glaubte sie ein junges Mädchen in einem langen weißen Kleid zum Strand laufen zu sehen.
"Nein!"
Sie drehte sich Dr. Callison zu. "Bitte?"
"Ich habe nichts gesagt, Miß Lindsay", erwiderte Victor. "Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt noch die Bibliothek. Wir b esitzen einige sehr wertvolle Bücher, um die uns jedes Museum beneiden würde."
Pamela folgte dem Arzt die Treppe hinunter, aber sie war nur noch mit halben Herzen bei der Führung. Unablässig stellte sie sich die Frage, was wohl in jener Nacht wirklich geschehen war. Noch immer klang das `Nein` in ihren Ohren. Sie hatte es ganz deutlich gehört. Aber wenn es Victor Callison nicht gesagt hatte, wer dann?
5.
An diesem Tag zog sich Pamela nach dem Dinner schon bald zurück. Trotz des Sturmes hätte sie noch gerne einen Spaziergang gemacht, aber sie wollte nicht alleine in der Dunkelheit zu den Klippen gehen. So stand sie in ihrem Zimmer am Fenster und blickte auf das vom Sturm gepeitschte Meer. Weit draußen gab es Schiffe. Die hellen Bullaugen erschienen ihr wie Irrlichter, die über dem Wasser tanzten.
Die junge Frau ging ins Bad, um zu duschen und sich für die Nacht zurechtzumachen. Als sie sich abtrocknete, mußte sie wi eder an ihren Freund denken. Ob Robin auch nur noch einen Gedanken an sie verschwendete? Hatte sie ihm jemals etwas bedeutet? Sei nicht ungerecht, sagte sie sich dann. Warum hätte ihr Robin sonst einen Heiratsantrag machen sollen? Nein, ganz sicher liebte er sie.
Aber warum meldete er sich dann nicht bei ihr?
Pamela blickte in den Spiegel, während sie sich die Haare fönte. Vermißt du ihn doch? Sie schaltete den Fön aus. Nachdenklich blickte sie in den Spiegel, so als wollte sie in ihrem eigenen Gesicht lesen. Nein, sie vermißte Robin nicht. Fast erleichtert darüber schnitt sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse.
Es war Victor Callison an den die junge Frau vor dem Ei nschlafen dachte. Sie sah sich mit ihm durch das Haus gehen. Hin und wieder nahm er ihre Hand, so als sei es nötig, ihr eine Treppe hinauf zu helfen oder dafür zu sorgen, daß sie sich nirgends anstieß. Pamela gestand sich ein, daß sie gerne mit ihm zusammen war. Obwohl sie sich erst an diesem Tag kennengelernt hatten, gab es nichts Fremdes zwischen ihnen.
Kurz nach Mitternacht,
Weitere Kostenlose Bücher