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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Marvin.
»Ja! Du hast immer so geschrien als Baby. Du warst ein fürchterliches Schreikind.«
»Das hat doch nichts mit meinem Hirntumor zu tun!«
»Doch – da war bestimmt nicht alles in Ordnung hier oben.«
Sie blickte zu Basti hoch und bewegte einen ihrer Zeigefinger kreisend vor ihrer Stirn, als wäre Marvin verrückt. Basti grinste.
»Weißt du, damals habe ich mir manchmal gewünscht, der wäre gar nicht da, so geschrien hat der.«
Marvin erstarrte. Hatte er sie richtig verstanden?
»Du hast gewünscht, ich wäre tot?!«
Seine Mutter drehte sich zu ihm um. »Aber das kann man ja nicht.«
»Was kann man ja nicht?«
Sie blickte in die Luft, als dachte sie noch einmal über das nach, was sie gesagt hatte.
»Er war doch noch ein kleines Baby. Irgendwann hatte er aufgehört mit dieser Schreierei.«
Entrüstet rief Marvin: »Du hast versucht, mich umzubringen?«
Plötzlich mischte sich Basti ein.
»Das hat sie doch gar nicht gesagt!«
»Aber das hat sie gemeint!« Marvin wusste doch, was er gehört hatte! »Man muss auch das hören, was zwischen den Sätzen nicht ausgesprochen wird, Basti.«
»Aber ich kann nur hören, was sie sagt und nicht was sie denkt.«
»Das musst du dann wohl noch lernen, Basti!«
Seine Mutter fauchte er an: »Was konntest du da doch nicht? Los … sag’!«
Er musste das jetzt wissen.
Sie sagte aber nichts, starrte ihn auf einmal nur ängstlich an.
Basti protestierte. »Du bist laut, Marvin. Du machst ihr ja Angst.«
»Das ist mir egal. Ich will es jetzt wissen, Mutter. Also, wie wolltest du mich loswerden? Mit einem Kissen vielleicht? Wolltest du mir ein Kissen auf mein Gesicht drücken?«
»Welche Kissen?«, fragte sie.
»Welche Kissen, welche Kissen?! Gelbe … rote … was weiß ich? Kissen eben!«
Sie nickte heftig. »Ja, ja … Kissen.«
»Hörst du es?«, rief Marvin seinem Bruder zu. »Sie wollte mich mit einem Kissen ersticken.«
Doch Basti schüttelte nur den Kopf.
»Findest du nicht, dass du übertreibst? Reg dich doch nicht so auf! Was ist denn los?«
Auch Marvin schüttelte den Kopf. Sein Bruder verstand nichts, einfach gar nichts! Zwischen den Zeilen lesen, zwischen den Sätzen hören!
Mutter lenkte ab. Wahrscheinlich bloß, weil sie nicht wollte, dass Marvin mit seinem Bruder stritt.
»Und jetzt? Wie geht es weiter mit dir?«
Plötzlich hatte sie also doch etwas von dem Tumor mitbekommen. Marvin merkte, wie er sich immer mehr in seinen Zorn hineinsteigerte. Hitze stieg ihm ins Gesicht und er schwitzte seine Empörung auf Stirn und Schläfen. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
»Ich werde daran sterben – wie jeder, der daran leidet. Dann hast du ja, was du wolltest. Bald kannst du mich beerdigen!«
Ja, er wollte sie verletzen – mit möglichst harten Worten, ohne Rücksicht. Es sollte ihm Luft verschaffen, seine Atmung beruhigen und sie hemmungslos treffen. Aber die Wirkung verfehlte den Zweck vollkommen. Seine Mutter erschrak nicht und bekam keine feuchten Augen, wie er es wollte und er dann wahrscheinlich wieder nicht ertragen hätte.
»Ja, ja – habe ich schon gehört. Jeder stirbt daran«, sagte sie nur, als sei es eine nebensächliche Tatsache. »Wenn das Gehirn einmal kaputt ist, ist es kaputt. Kann man leider nicht austauschen.«
Sie redete über seinen Kopf wie über einen Defekt am Kühlschrank.
Marvin gab die Diskussion auf und war froh, als Basti sie zum Gehen drängte. Er würde es nicht einfach haben, sein Bruder. Warum hatte sie eigentlich nicht Basti ersticken wollen?
Es war ganz sicher dieser Besuch, der ihm später diese Kopfschmerzen bescherte! Danach bekam er auch sein unablässiges ›Nachdenkenmüssen‹ nicht mehr aus dem Hirn. Schwindel machte ihn benommen und in seinen Ohren breitete sich ein pulsierender Tinnitus aus. Lisa, seine Mutter, André, Ersticken – das alles beschäftigte ihn ruhelos bis in die Nacht hinein. Marvin sah seinen Kopf unter einem gelben Kissen zuckend. Er hatte es ja schon ausprobiert und wusste, wie es sich anfühlt, wenn der Druck des weichen Gewebes seine Atemwege verschloss.
In dieser Nacht ließ das ›Denkenmüssen‹ nicht nach, beruhigte ihn nichts. War er wirr? Er wusste es nicht mehr. Lisa und Basti jedenfalls taten so.
Erst, als er sich auf das Rauschen in seinen Ohren konzentrierte und zum monotonen Beruhigungsgeräusch erklärte, schlief er ein.

Wahrscheinlich lagen sie dort nicht das erste Mal, als er sie entdeckte. Aber am nächsten Morgen fielen sie ihm auf den Kissenbezügen überdeutlich auf und

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