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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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im Kamm tummelten sie sich nach jedem Strich zu Haufen: Haare! Graue Haare, die sich mit den Fingern vom Kopf ziehen ließen. Die Nebenwirkung der Chemotherapie machte also keine Ausnahme bei ihm. Seine Ärztin, die sich vor sein Bett setzte und ihm wieder Blut abnahm, beruhigte ihn.
»Ziemlich früh, der Haarausfall. Nehmen Sie es als ein Zeichen dafür, dass die Chemotherapie wirkt!«, beschönigte sie.
Was für ein Trost! Resigniert hielt er ihr seinen Arm zur Blutentnahme hin.
Während sie die Schlaufe zuzog, dachte Marvin an einen zugeschnürten Hals.
»Wie sieht eigentlich jemand aus, der erstickt ist?«
Die sonst so emotionslose Frau hob überrascht eine Braue.
»Warum wollen Sie das wissen?«
Marvin versuchte, so nebensächlich wie möglich zu klingen.
»Nur so – es interessiert mich.«
Ruhig sog sie das letzte von sechs Röhrchen mit seinem Blut voll und löste das Band an seinem Oberarm. Von der winzigen Verunsicherung in Form der Bewegung einer Braue verblieb keine Spur. Ordentlich etikettierte sie die Blutproben und stellte sie in ein weißes Gittergerüst aus Draht. Sie drückte ihm einen Tupfer auf die Einstichstelle, dann stand sie auf.
»Es kommt ganz darauf an, wie man erstickt.«
»Da gibt es Unterschiede?«
Sie sprach, als hätte sie täglich in der Rechtsmedizin zu tun und als sei es eine Art Allgemeinbildung, die ihm fehlte.
»Man kann erdrosselt, erwürgt, ertränkt werden, erstickt durch Aspiration oder erstickt mittels weicher Bedeckung. In allen Fällen ist die Todesursache Sauerstoffmangel. Welche Art des Erstickens meinten Sie also?«
Die vielfältige Unterscheidung zu dieser Art des Sterbens überraschte ihn. Es schien ihm aber in der Tat ein grausiger Unterschied, ob man infolge eines Unfalls ertrank oder gewaltsam erdrosselt wurde.
»Die weiche Bedeckung, von der Sie sprachen, könnte das auch ein Kissen sein?«
»Ich denke, in der Hauptsache wird es ein Kissen sein.«
»Wieso?«
»Das ist am unauffälligsten. Man sieht so gut wie nichts.«
»Könnte man es nachweisen?«
»Es gibt ein paar Anzeichen, die in der Gerichtsmedizin untersucht werden. Zum Beispiel Hautabschürfungen im Gesicht oder Einblutungen in der Lippe, auch punktförmige Blutungen, die allerdings ebenso bei natürlichen Todesarten vorkommen.«
Inzwischen nahm sie ihre Utensilien zur Hand, um zu gehen. Marvin wurde deutlicher: »Was ist eigentlich mit meinem Vorgänger in diesem Zimmer passiert?«
Sie sah ihn übertrieben fragend an. Ihm kam es vor, mit einem Blick, als hätte sie es mit einem Idioten zu tun.
»Welcher Vorgänger?«
»André Hausner. Der Mann, der vor mir auf diesem Zimmer gelegen hat.«
»Ich erinnere mich nicht, wer hier gelegen hat.«
»Kommen Sie, ich weiß, dass hier jemand gestorben ist. Genau hier an dieser Stelle!«
»Natürlich ist genau an dieser Stelle, an der Sie jetzt liegen, jemand gestorben.«
Aha – sie gab es zu!
»Dies ist ein Krankenhaus, Herr Abel. Sechzig von einhundert Menschen, die hier behandelt werden, sind todkrank und sterben im Krankenhaus. Im Laufe der Jahre wird auch in diesem Zimmer und in Kombination mit diesem Bett ein Mensch gestorben sein.«
Ihre kühle Fassung hatte die junge Ärztin jedoch eingebüßt. Es kam ihm vor, als schien nicht nur ihre Stimme, sondern auch ihr gesamter Körper leicht zu beben. Eilig schritt sie auf die Tür zu. Nein, so wollte er sich nicht abspeisen lassen.
»Sie wissen genau, wen ich meine! Sonst würden Sie sich nicht so aufregen über meine Fragen, nicht wahr. Schülerin Elke hat mir von diesem Mann erzählt.«
Etwas gereizt drehte sie sich um.
»Was sagt Ihnen, dass ich mich aufrege?«
»Ihre zickige Stimme, kleine rote Flecken an ihrem Hals und die gerötete Haut an Ihren Ohren.«
Sie zog ihren Kragen enger.
»So, so – Schülerin Elke hat Ihnen das erzählt. Warum interessieren Sie sich eigentlich dafür? Was geht Sie dieser Patient an?«
»Es kann ja sein, er starb gar nicht an seiner Krankheit, sondern gewaltsam.«
»Blödsinn! Der Mann war sicher sterbenskrank, wie Sie!«
»Eben sagten Sie noch, er existierte überhaupt nicht, und jetzt streiten Sie mit mir, ob er gewaltsam starb oder nicht.«
Geräuschvoll ließ sie die Tür ins Schloss fallen.
Unglaublich, ihr die Fassung geraubt zu haben. Marvin fühlte sich hässlich befriedigt und gleichzeitig beunruhigt. Verdächtiger konnte man sich doch nicht benehmen.
Wieder rief er bei Lisa an. Wieder musste Lisa zu lange arbeiten. Zu spät für einen Besuch noch heute. Er sollte sich

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