Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
arbeitete in einer Parfümerie, wahrscheinlich musste sie so aussehen. An ihrem Zopf, blondiert wie Vanilleeis, trug sie eine gigantische pinkfarbene Rosenspange mit Strass. Die Bügel ihrer Brille vereinten sich mit dem Pink der Spange. Aber ihr extravagantes Auftreten fand Marvin für eine Parfümerie nicht ungewöhnlich.
Was er nicht für normal hielt, war ihre Reaktion auf ihn. Schließlich war er Kunde. Er verlangte nach dem Parfum.
»Es wäre nett, wenn Sie es mir als Geschenk einpacken könnten.«
»Wie bezahlen Sie?«
Marvin stutzte. Ihre Unfreundlichkeit irritierte ihn. Als Behinderter gewissen Diskriminierungen ausgesetzt zu sein, verwunderte ihn nicht, aber ihr Verhalten erschien ihm völlig übertrieben. Sie brachte ihm das Fläschchen, eingepackt, wie gewünscht und in einer Plastiktüte. Dass er nicht näher zur Kasse kam, störte sie anscheinend nicht, eher machte es den Eindruck, als wäre sie froh darüber.
»Einundsechzig Euro bitte!«, zickte sie.
Sie ließ das Paket nicht los, bevor er ihr das Geld übergeben hatte. Die Geldscheine fasste sie mit zwei Fingern an, geradezu angewidert und das Wechselgeld schüttete sie ihm berührungslos in die Hand. Marvin verstaute es der Einfachheit wegen lose in der Tasche seiner Jogginghose, was die Verkäuferin mit einem Räuspern kommentierte. Ihre Kollegin hinter der Theke kicherte.
›Das war das letzte Mal, dass ich so einen Laden betrat‹, dachte Marvin und mit dem Plastikbeutel um das Handgelenk gewickelt beeilte er sich, zurück zu der Stelle zu kommen, wo ihn der Taxifahrer abgestellt hatte. Jeder neue Schritt fiel schwerer als der vorhergehende, und immer öfter musste er Pausen einlegen. Er hatte sich definitiv zu viel vorgenommen, das musste er sich zugeben. Dann erblickte er eine Reihe von Taxen. Unter Qualen näherte er sich dem ersten Fahrzeug und klopfte mit dem Stock leicht an das Beifahrerfenster, weil der Fahrer nicht gleich öffnete. Der ließ die Scheibe herunterfahren und schrie ihn an.
»Verpiss dich!«
Schockiert und sprachlos wich Marvin zurück, während die Scheibe wieder hochfuhr. Erst der dritte Taxifahrer nahm ihn mit und das auch erst, nachdem Marvin ihm sein Geld gezeigt hatte. Er ließ sich am Krankenhaus absetzen, zahlte dem unhöflichen Fahrer seinen Lohn und schleppte sich zum Fahrstuhl. Befremdlich, selbst hier starrten ihn die Mitfahrenden an und hielten so viel Abstand, wie möglich. Betrübt und erschöpft erreichte er sein Zimmer und warf sich rücklings auf das Bett. Welch ein deprimierendes Erlebnis! Unbegreiflich, wie grausam Menschen sein konnten.
Wenigstens besaß er nun ein kleines Geschenk für Lisas Geburtstag. Lieber stellte er sich die Freude in ihrem Gesicht vor, als über diesen fürchterlichen Ausflug nachzudenken. Sowieso war er viel zu entkräftet. Nur noch das Gesicht waschen und dann schlafen.
Marvin packte das Geschenk in seinen Beistellschrank und begab sich zum Waschbecken. Mit einer Hand schlüpfte er in einen von Lisas hundertfach mitgebrachten Waschhandschuhen und hielt ihn in den Wasserstrahl. Bevor er den Waschlappen ansetzte, sah er zum ersten Mal an diesem Tag sein Gesicht im Spiegel. Marvin erschrak. Einige Strähnen seiner ungleichmäßig gelichteten Haare standen wirr ab, andere klebten fettig, wie angeklatscht, an seiner Kopfhaut. Die Mütze hatte er vergessen. Auf seiner Haut sprossen grob entzündete Hautunreinheiten, die es gestern noch nicht gegeben hatte.
So ungekämmt und ungewaschen war er also in die Stadt gelaufen. Kein Wunder, dass ihn jeder mied. Roch er womöglich noch nach Schweiß? Misstrauisch beschnupperte er seine eigenen Achseln, was ihm nur rechts wirklich gelang. Eigentlich ging es mit dem Geruch, fand er.
Doch als er an sich herabblickte, stockte ihm der Atem. An einer delikaten Stelle wies seine Hose einen großen dunklen Fleck auf. Marvin fühlte nach und tatsächlich – sein Schritt war nass! Das konnte doch nicht sein! Sicher hatte er sich gerade eben durch das Anlehnen am Waschbecken benässt. Der Rand des Beckens zeigte jedoch keinerlei Wasserreste. Mit zwei Fingern hob er den Hosenbund seiner Jogginghose vom Bauch ab und betrachtete seine Retroshorts.
Es gab keinen Zweifel. Er hatte sich eingenässt! Und nicht gerade wenig! Wieso nur? Und er hatte gar nichts bemerkt, nicht einmal die Kälte der Nässe. Marvin wusste nicht einmal, seit wann er schon so beschämend herumlief. Er sah ja aus wie ein Penner! Die ganze Zeit in der Parfümerie, auf der Straße, im
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