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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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seinen Schwierigkeiten beim Lösen der Rätsel.
Mit einer Pobacke setzte sie sich auf sein Bett und sah ihn ernst an. Sie war eindeutig Mamas Kind. Ihre Körpersprache, ihre Mimik, die Art, wie sie über Dinge dachte – alles erinnerte an Lisa. Doch zu ihr passte all das: ihrer Jugend wegen. Es störte Marvin nicht, wenn sie sich wie ein Kind benahm. Sie war ja noch eins mit ihren gerade mal zwanzig Jahren. Noch lange nicht erwachsen, zog sie – sehr zu seinem Leidwesen – mit ihrem Freund durch Diskotheken, unterknechtete sich jedem neuen Modetrend, schwärmte immer noch für halb nackte Musikstars. Und das alles neuerdings in Hamburg, weit weg von ihm und Lisa. Den einen oder anderen Unsinn verzapfte sie wohl auch noch immer, jedoch nie etwas wirklich Schlimmes, so hoffte er jedenfalls. Was in Hamburg geschah, bekam er zu seinem Bedauern nicht mit. Etwas zu leichtsinnig war sie bestimmt. Aber er konnte es ja nicht ändern.
Jetzt saß sie mit ernstem Gesicht auf seinem Krankenbett und machte sich Sorgen um ihn. Mama hätte mit ihr über die Krankheit gesprochen. Doch wie viel wusste sie wirklich darüber? Was konnte er ihr zumuten? Wusste sie, was sonst alle wussten, was er nicht wahrhaben wollte, jedoch unausweichlich war? Marvin wollte nicht mit ihr darüber reden. Darum suchte er nach allen möglichen Themen, die er stattdessen ansprechen konnte.
»Was macht dein Freund Christoph? Den Job im Lager hat er doch bekommen, oder?«
»Sie fanden ihn nicht kräftig genug. Er sucht weiter! Dabei ist das Unsinn. Die dicken Arme wird er bei der Arbeit im Lager schon bekommen.«
Marvin pflichtete ihr bei. Der junge Mann war zwar nicht der Kräftigste, aber das konnte ja wirklich noch werden. Schade für ihn. Und für Julia. Beiden stand nicht viel Geld zur Verfügung. Er war schon länger arbeitslos und sie arbeitete seit dem Abbruch des Abiturs als Verkäuferin in einem Drogeriemarkt. Da kam nicht viel zusammen, und Marvin half Julia öfter aus, damit sie ihre Miete zahlen konnte. Sie musste ja auch unbedingt zu Christoph nach Hamburg ziehen, wo alles so viel teurer war.
»Vielleicht sollte er noch einmal zur Schule gehen«, schlug er vor, obwohl er wusste, sie würde ihm widersprechen.
»Papa – er hat schon eine Ausbildung, die ihm nichts gebracht hat. Er will jetzt richtig verdienen, nicht schon wieder so eine Ausbildungsvergütung, von der man sich nichts leisten kann. Das wären wieder drei Jahre lang nur so ein paar Kröten.«
Das alte Thema. Sie wollte nicht verstehen, dass es einen Unterschied machte, ob man früh mehr verdiente, dann aber stets wenig, ohne weiteres Fortkommen oder erst später und dann aber richtig gut. Notfalls auch mit einer zweiten Ausbildung. Zu ungeduldig, die beiden. Er überlegte, ob er in seiner Jugend genauso gehandelt hätte, hätte man ihm eine Wahl gelassen.
»Jetzt ist erst einmal Hauptsache, du wirst wieder gesund.«
Gesund? Wusste sie doch nicht, wie es um ihn stand? Tat sie nur so, um ihn aufzumuntern, was er ebenso schlimm fand? Doch wenn sie es nicht wusste, wann wollte man es ihr dann sagen?
Trotzdem sagte er: »Ja, Schatz!«
Sie unterhielten sich noch lange, hauptsächlich über Vergangenes, über gemeinsame Erinnerungen aus Julias Kindheit. Julia, wie sie mit ihm auf diesem viel zu schnellen Stühlchen-Karussell fuhr und sich während der Fahrt rings um das Karussell herum über alle Leute erbrach, wie sie mit Papa im Schalke-Stadion stand und ein schwarzgelb gestreiftes Biene Maja-T-Shirt trug, wie sie sich beide auf einem Spaziergang verirrten und Mama nichts davon sagten.
Sie lachten über diese kleinen Anekdoten, die schon lange Vergangenheit waren. Eine Erinnerung an vertraute Zeiten nur noch, längst nicht mehr Gegenwart, auch schon vor ihrem frühen Auszug von Zuhause. Sie lachten und kamen nicht mehr aus dem Lachen heraus. Es schien wie eine Sucht danach. Eine witzige Geschichte jagte die andere und jede begann mit ›Weißt du noch…‹ War die eine erzählt, suchten sie fieberhaft nach einer noch lustigeren Begebenheit, über die sie sich ausschütten konnten. Keiner wollte aufhören damit.
Doch irgendwann gingen ihnen die passenden Erinnerungen aus und sie ließ sich doch nicht vermeiden, die bitterernste Pause. Ab und zu versuchte einer von beiden einen Neustart, aber der Witz reichte nur noch für ein kurzes erschöpftes Auflachen. Ihre Muskeln und ihr Geist waren ermattet. Nichts war mehr komisch genug, ein Lachen zu provozieren. Die Gegenwart hatte sie

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