Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
bedauerlicherweise zweimal ohne ihn nach unten fuhr. Marvin gab sich die größte Mühe, sie zufriedenzustellen, damit er endlich weiter durfte. Ausgerechnet jetzt überraschte sie mit dieser plötzlichen Sorge um ihn. Er musste sie in einem sehr ruhigen Moment erwischt haben. Nach der x-ten Übung bedankte sich Marvin freundlich für ihre Hilfe, betonte noch einmal, dass er doch nur eben zur Cafeteria wollte und notfalls ja auch noch in der Lage wäre, anzurufen. Schließlich verdrückte er sich in den Fahrstuhl und versuchte, mit dem verkrampften freien Arm irgendwie zu winken. Auf sie musste es wohl komisch gewirkt haben, denn Schwester Sabine sah ihm offensichtlich belustigt hinterher.
Schon beim Druck auf den ›Ausgang‹-Knopf fühlte sich Marvin schuldig, und während er mit der neuen Unterarmgehhilfe an der Pforte vorbeihinkte, kam er sich vor, als beginge er ein Verbrechen. Doch der kühle Wind, der ihm vor der Eingangstür ins Gesicht wehte, blies sein schlechtes Gewissen schnell hinweg. Diese Weite! Wie sehr Räume doch einengten, wenn man sie nicht verlassen konnte. Ein paar Atemzüge lang genoss er einfach nur die wohlriechende Luft der Freiheit.
Dann nahm er das nächststehende Taxi und ließ sich einige Straßen weiter an einer belebten Ecke absetzen. Von hier aus konnte er in wenigen Schritten die mit Menschen gefüllte Fußgängerzone erreichen. Als das Taxi wegfuhr, fühlte er sich frei. So unabhängig. Aber auch so allein gelassen. Ab jetzt konnte er auf keine Hilfe hoffen. Niemand, der ihn stützen würde, niemand der ihm etwas anreichen könnte. Marvin hatte es begonnen und nun musste er es auch zu Ende bringen. Bevor er losging, versuchte er, Kraft zu sammeln. Er war nervös. Ein Ausflug in die City, etwas ganz Alltägliches, regte ihn so auf, als würde er sich zu einem Überlebenstraining im Dschungel begeben. Sollte sein Fehlen im Krankenhaus nicht bemerkt werden, musste er sich beeilen. Bei dem Theater, das Schwester Sabine am Fahrstuhl gemacht hatte, würden sie ihn bald vermissen.
Mit einigermaßen angemessenem Schwung ging er los, verlor diesen Schwung aber bald wieder. Bei jedem Schritt, wie mit Sabine geübt, einhändig auf den Stock gestützt, bewegte er sich vorwärts. Von Gehen oder etwa Laufen konnte keine Rede sein, sondern wirklich nur von ›vorwärts bewegen‹, ohne Eleganz, ohne Dynamik, ohne Kraft. Seltsamerweise schien es unbeschwerlicher, einen Krankenhausgang entlang zu humpeln, als eine ebenso lange Gehstrecke auf einer Einkaufsstraße zu bewältigen. Dieses blöde Bein gehorchte einfach nicht. Es war zu lang und ließ sich nur mit den Zehen aufsetzen. Für jeden Schritt musste er vor dem Auftreten das Bein etwas nach außen abwinkeln. Gleichzeitig verkrampfte sich vor lauter Anstrengung sein Arm immer mehr und presste sich mit einer unfreiwillig geballten Faust an seine Brust. Einige Passanten glotzen ihn an, doch er war viel zu sehr mit dem Laufen beschäftigt, um sich wirklich daran zu stören. Wenigstens regnete es heute nicht. Schon bald entschied sich Marvin für eines der nächstliegenden Geschäfte. So konnte er sich einiges an Strapazen ersparen. Er suchte eine Parfümerie aus. Lisa mochte Parfum und er wusste sogar, welches sie bevorzugte – den rosensüßen Duft aus einer kleinen tiefroten Flasche, wie auch immer er heißen mochte.
Ein Schwall und Mischmasch an Gerüchen strömte ihm entgegen, als er durch den Eingang des Ladens hinkte. Die Luft erstickte förmlich in der Süße der Düfte. Es war eine fremde Welt für ihn – eine weibliche Welt, die ihm so rätselhaft war, wie Lisas Gedankenwelt. So stand er mitten im Raum des Geschäftes und maß mit den Augen die Strecke ab, die er hätte gehen müssen, um sämtliche Regale abzusuchen. Sie war zu lang, auf jeden Fall. Er musste jeden unnötigen Schritt vermeiden, um noch irgendwie zum Krankenhaus zurückzugelangen. Verdrossen schickte er einen Hilfe suchenden Blick zur Kasse, von der aus zwei Verkäuferinnen ihn offensichtlich beobachteten.
»Können Sie mir bitte helfen?«
Plötzlich sahen sie nach unten, auf irgendeine Unterlage.
»Hallo, könnten Sie mich bitte bedienen?!«
Die beiden blickten sich an und nach kurzer, aber heftiger Diskussion gab sich schließlich eine von ihnen die Ehre, näher zu kommen. Eineinhalb Meter vor ihm blieb sie stehen. Unglaublich, dass seine Behinderung sie so sehr auf Distanz hielt.
Die Verkäuferin war eine junge Frau mit stark geschminktem Gesicht. Nun ja, sie
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