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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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Taxi. Ein Wunder, dass ihn überhaupt ein Fahrer mitgenommen hatte.
Das “Eingenässtsein“ beschäftigte ihn noch lange. Der Gedanke daran ließ ihn vor Scham den Kopf unter die Bettdecke vergraben. ›Ein Unfall‹, sagte er sich immer wieder. Doch misstrauisch befühlte er ab da an ständig seine Hose, in der Angst, es nicht bemerkt zu haben. Die nassen Sachen stopfte er in eine Plastiktüte und warf sie in den Abfalleimer. Lisa sollte sie nicht sehen. Es schien bei diesem einen Mal zu bleiben. Zum Glück.

Nach diesem Ausflug fühlte sich Marvin noch lange sehr erschöpft. Zu schwach, seine Glieder zu bewegen oder sich über die Schwestern zu ärgern, die ihn zum Aufstehen zwingen wollten. Stunde um Stunde verdöste er nun Tage seines Lebens. Geistig durchwanderte er eine dicke Nebelbank mit einem nur kümmerlichen Willen, sie zu durchdringen. Ärzte kamen und gingen. Lisa kam und ging. Doch irgendwann verschwand die Nebelbank und ließ nur noch ein paar Schleier übrig. Lustlos kramte er in der Schublade seines Nachtschrankes nach einer Zeitschrift, die er nicht schon dreimal gelesen hatte. Dreimal gelesen, jedoch nicht verinnerlicht! Die Konzentration fehlte ihm.
Da fand er es. Ganz unten in der Schublade, unter einem Berg von verpackten Taschentüchern und etlichen sinnlos gesammelten Zuckertütchen – das Rätselheft, welches ihn bei Lisas erstem Besuch so belustigt hatte. Marvin nahm es heraus und blätterte darin. ›Abk. ehrenhalber‹ senkrecht und ›Gerät zur Richtungsbestimmung‹ waagerecht? Was war denn das für ein Blödsinn? Er wendete das Blatt. ›frz. Stadt in d. Champagne‹ senkrecht und ›niederl. Maler‹ waagerecht? Es fiel ihm nicht ein, obwohl es ihm auf der Zunge lag. Vielleicht etwas anderes. Auf der nächsten Seite wurde nach einer europäischen Hauptstadt mit 8 Buchstaben gefragt. Wie automatisch nahm er einen Bleistift und füllte aus ›Toronto‹! Nein, das waren ja nur 7 Buchstaben. Vorerst trug er Fragezeichen in die Kästchen ein. Gleich würde es ihm einfallen. Er war nur abgelenkt. Marvin machte die interessante Entdeckung, dass sein Kugelschreiber im Liegen nicht schrieb. Jedenfalls nicht, während er auf dem Rücken lag. Die Tinte lief zurück. Einfachste Physik, doch er hatte es bisher nicht gewusst. Oder hatte er es vergessen?
Die interessanteste Entdeckung war jedoch, dass ein Rätselheft ihn fesseln konnte. Ihn, der schon als junger Mann mit Hingabe Max Frisch gelesen hatte und Samuel Beckett und Hermann Hesse. Freiwillig und nicht, weil er es in der Schule hatte lesen müssen. Marvin setzte sich aufrecht und füllte weiter aus. Was war das doch gleich? Wieso passt denn ›Tripolis‹ nicht? Nichts fiel ihm ein. Unglaublich, vor einigen Wochen noch Mitarbeiter geführt zu haben. War dies das Ende seiner Denkfähigkeit? Die Logik ließ sich nicht mehr beherrschen. Konnte er sich auf sein Hirn etwa nicht mehr verlassen? Geschockt, von einem Oma-Rätselheft vor eine echte Herausforderung gestellt zu sein, erweckte er seinen Geist mit dem Schrecken davor. Am Ende lag es vollständig ausgefüllt auf dem Nachtschrank. Na also! Noch war er in der Lage, folgerichtig zu denken. Sein Hirn war noch sehr gut intakt, nur nicht mehr in Übung. Na gut, einen Teil der Lösungen hatte er hinten im Heft nachgeschlagen. Aber nur, damit es schneller ging!

»Endlich komme ich dazu, dich zu besuchen, Papa!«
Wirbelig wie ihre Mutter, nur jünger, noch schneller und noch hübscher, fegte Julia durch das Zimmer auf ihn zu, mit einem neuen kecken Kurzhaarschnitt und wieder neuer Haarfarbe – diesmal eine Mischung aus lilarot im Deckhaar und strohblond darunter.
Schnell fühlte Marvin unter der Bettdecke nach seinem Schritt, um sicherzugehen, dass er nicht nass war.
Julia erstarrte kurz, als sie vor seinem Bett stand und ihn ansah.
»Erschreckt dich mein Arm?«
Er drückte ihn hoch, so weit es ging und rechnete mit einem Aufschrei seines Kindes, was sie nicht tat. Sie stand nur da und atmete.
»Nein, Mama hat mir davon erzählt«, sagte sie dann. »Es ist eher, weil … du bist so dünn geworden.«
Ach so! Immerhin, man sprach noch von ihm zu Hause. Nach Lisas ausweichendem Verhalten bei ihren Besuchen fürchtete Marvin gelegentlich, sie würde ihn totschweigen.
Julia fasste sich wieder.
»Ich habe es mir schlimmer vorgestellt.« Sie blickte auf seinen Nachtschrank. »Du liest Rätselhefte?«
Peinlich berührt ließ Marvin das Heft in der Schublade verschwinden. Er verriet ihr nichts von

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