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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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hielt.
»Schön«, flüsterte sie erschrocken und lächelte ihn etwas ängstlich an. Dann blickte sie auf seinen Oberkörper herab.
»Oje, das tropft ja!«
Schnell wand sie sich aus seinem Griff und befreite ihn von dem Lappen.
Sie kramten noch einige harmlose Erinnerungen aus und Julia schien den angespannten Moment genauso schnell zu vergessen, wie sie ihren Grund zum Weinen vergaß.
Sehr gelöst verließ sie ihn.
»Ich bin so froh, dir das noch gesagt zu haben«, rief sie von der Tür aus. »Jetzt fühle ich mich viel wohler.«
Marvin nicht! Er winkte ihr nach, obwohl er sie nicht mehr sah.
Besuche deprimierten ihn. Frederik hatte ihn gewarnt. Schmerzhaft spürte er, wie sein linker Arm stärker zu krampfen begann.

Marvin bemerkte es morgens, noch vor dem Wecken. Aus unerklärlichem Grund wachte er früher auf als sonst. Noch betäubt vom Schlaf, blickte er im Halbdunkeln eine ganze Zeit lang hohlköpfig an die weiße Krankenhausdecke, bevor er begann, sich richtig wahrzunehmen.
Etwas war anders heute. Marvin lenkte seine Aufmerksamkeit auf die linke Körperhälfte. Seine allmorgendliche Hoffnung, die Lähmung könnte nachgelassen haben, erfüllte sich wieder nicht. Mühselig zog er sich am Bettgalgen zum Sitzen hoch. Zur Abwechslung schmerzten ihm dabei heute die Finger, als litt er unter starkem Muskelkater. Er musste gewühlt haben heute Nacht, denn sein Bettzeug lag komplett zerknittert da und das Kopfkissen fand er zu Boden geworfen. Seine Zunge schmerzte. Sie fühlte sich geschwollen an. Als er sich aus dem Bett wälzen wollte, um sich die Klumpzunge im Spiegel anzusehen, entdeckte er es.
Ein riesiger dunkler Fleck breitete sich auf seiner Matratze aus. Nicht nur Laken und Oberdecke waren nass, sondern auch seine Hose und ein Teil des Hemdes. Er brauchte gar nicht lange zu raten, denn es roch eindeutig nach Urin um ihn herum. Sein gesamter Blaseninhalt musste sich über Nacht im Bett verteilt haben. Aufgeregt befühlte er seinen Unterleib, ob er nicht gelähmt war. Zum Glück spürte er sich noch. Es musste ein Traum gewesen sein, von dem er jetzt nichts mehr wusste. Der Traum, zur Toilette zu müssen und schon war es passiert.
Peinlich berührt suchte Marvin nach einer Möglichkeit, sein Missgeschick noch zu vertuschen. Dazu hätte er sich komplett umziehen, das Laken wechseln und die Matratze mit der des leeren Nachbarbettes tauschen müssen. Das alles mit seiner Behinderung, ganz abgesehen davon, dass er sich schwindelig fühlte und ihm der Kopf brummte. Es war unmöglich. Marvin sah auf die Uhr – 6.40 Uhr – gleich würde die Morgenschicht kommen und er saß in einem von ihm vollgepinkelten Bett. Er war dem Heulen nahe.
»Guten Morgen!«
Die Frühschicht kam nur zu zweit heute zum Wochenende. Es waren Schwester Sabine und eine andere Schwester, die er noch nie gesehen hatte. Als sie sich mit eiligen Schritten seinem Bett näherten, wollte Marvin schnell eine Vorwarnung aussprechen, doch er bekam nur Laute heraus, die sich anhörten, wie mit vollgestopftem Mund gesprochen. Diese fleischige Zunge ließ ein verständliches Sprechen einfach nicht zu. Sie störte in seinem Mund wie ein Fremdkörper. Er versuchte es noch einmal, doch bis dahin schlug die unbekannte Schwester bereits die Bettdecke zurück.
Sie stutzte einen Moment, als sie die unangenehme Überraschung sah. Marvin beobachtete beide, wie sie Blicke untereinander austauschten. Dann zogen sie aus ihren Kitteltaschen gelbe Einmal-Handschuhe, streiften sie über und setzten ihn aufrecht.
»Was ist uns denn passiert?«, fragte die Neue, was ihm aber mehr wie eine Aussage vorkam.
»Ehhehhhehhhh …«, antwortete Marvin und deutete auf seine Zunge.
Schwester Sabine fasste sein Kinn und drückte mit den Latexhandschuhen seinen Mund auf. Mit einer Taschenlampe leuchtete sie hinein, während Marvin hoffte, dass sie mit den Handschuhen nicht vorher in das benässte Bettzeug gepackt hatte.
»Sie haben sich gebissen! Da ist alles geschwollen.«
Jetzt erst sah er das Blut auf seinem Kissenbezug, den die andere Schwester gerade auswechselte. Welcher Traum hatte ihn wohl dazu gebracht, sich selbst zu beißen? Er erinnerte sich an nichts.
Die Krankenschwestern arbeiteten effektiv. Zuerst halfen sie ihm, ein neues Hemd anzuziehen, dann holten sie ihn aus dem Bett heraus, streiften ihm die Hose ab und setzten ihn – unten herum nackt – in einen fahrbaren Toilettenstuhl. Vor das Waschbecken gefahren, drückten sie ihm einen Waschlappen in die Hand und

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