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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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In seinem Arm steckte wieder mal eine Infusionsnadel. Angeblich nur Kochsalz und Mineralien. Er glaubte das nicht und beobachtete die Flüssigkeit, wie sie tropfenweise den dünnen Schlauch füllte und ihren Weg in seine Venen nahm. Vielleicht würde das seine letzte Infusion sein, dachte Marvin. Die letzte der kleinen unauffälligen Dosen am Ende tödlicher Medikamente, die langsam seinen Körper vergifteten. Auf einmal fühlte er sich miserabel. Ihm war speiübel! Direkt vom Arm der Infusion aus breitete sich ein unheilvolles Kribbeln in seinen Gliedmaßen und Organen aus und ließ jede der passierten Stellen seines Körpers absterben. Zuerst befiel es die Arme, seltsamerweise beide Arme gleichzeitig, dann die Beine, danach Bauch, Leber, Nieren, den Brustkorb, Lunge, Herz und schließlich seinen Kopf. Mit letzter Kraft schaffte er es gerade noch, sich von der Infusion zu befreien. Zum Teufel mit dem Bettzeug! Doch vielleicht war es schon zu spät, zu viel Gift in seiner Blutbahn, zu viele Organe geschädigt, sodass er dennoch sterben musste.
Eine Stunde später lebte er immer noch. Die Schwestern fanden ihn blutverschmiert in seinem Bett und säuberten ihn. Beruhigen konnten sie ihn kaum.
»Ich weiß, was ihr vorhabt!«, flüsterte er. »Giftmischer!«
Das Kribbeln aber war verschwunden und seine Schwäche hatte nachgelassen. Lisa wirkte sehr irritiert über Marvins Anschuldigungen der Klinik gegenüber, als sie auf der Bettkante saß.
»Verfolgungswahn«, sagte sie leise.
Sie mussten hinter Marvins Rücken mit ihr geredet haben. Dann entdeckte sie ein paar lose Tabletten in seinem Nachtschrank.
»Marvin, du musst aber die Medikamente weiternehmen! Nicht, dass du sie einfach weglässt!«
»Vor ein paar Wochen hast du noch gerne mit mir an eine Verwechslung geglaubt«, beschwor er sie.
»Die Schwestern haben sich bei mir beschwert. Du flüsterst gemeine Dinge hinter ihren Rücken und du misstraust sogar dem Tee, den sie für dich bringen. Marvin, diese Menschen wollen dir helfen.«
Marvin beugte sich in seinem Bett weiter nach vorne und flüsterte Lisa ins Ohr: »Thie wollen mith vergiften!«
»Was sagst du?«
Die Zunge! Er räusperte sich.
»Sie wollen mich vergiften!«
Lisa zog den Kopf zurück und sah ihn fassungslos an. Marvin nickte zur Bekräftigung seiner Worte.
»Das wollen sie, glaube es mir. Oder sie ersticken mich nachts mit einem Kissen. Ich habe inzwischen Angst, einzuschlafen! Zwei Menschen haben sie schon auf dem Gewissen. Aber mir glaubt ja niemand. Karl hat es gewusst – mir glaubt ja niemand.«
Lisa sprang auf und schüttelte verzweifelt ihren Kopf.
»Ich kann nicht mehr!«, heulte sie. »Marvin, wo bist du?«
Marvin rief ihr nach, als sie davon lief. »Niemand glaubt mir!«
»Nicht einmal du«, flüsterte er dann für sich.

Es war Mittag als Schwester Sabine in sein Patientenzimmer eintrat. Inzwischen fühlte er sich wieder gestärkt, erholt von den letzten schädlichen Medikamentengaben. Doch sein Kopf schmerzte seitdem ohne Unterbrechung.
Die resolute junge Krankenpflegerin baute sich mit ihrer weißen Uniformierung vor seinem Bett auf, die Arme in die schlanke Taille gestemmt, mit dem Blick einer Übermutter und einem leichten Grinsen in den Mundwinkeln.
»Wie ich höre, glauben Sie, dass wir Sie vergiften wollen!«
Marvin richtete sich im Bett hoch auf.
»Glauben Sie, was Sie wollen! Ich bin ein mündiger Patient und Sie können mich nicht zur Einnahme von irgendwelchen Drogen zwingen!«
Er war gereizt. Alleine die Art, wie sie hier auftrat. Wusste sie nicht, wen sie vor sich hatte? Dieser Umgang mit ihm, als wäre er entmündigt. Was wollte sie eigentlich, diese kleine Schnepfe? Noch war er nicht bettlägerig, noch konnte man nicht mit ihm machen, was man wollte. In Marvin begann es, zu kochen. Brodelnd quoll der Missmut in ihm hoch, lief über zu einem Brei aus Aggression und Hass.
»Nun«, sagte sie, indem sie näher kam. »Ob Sie diese Tabletten nehmen oder nicht, ist tatsächlich Ihre Sache. Aber zu behaupten, wir wollten Sie vergiften, ist etwas anderes.«
Sie stand jetzt direkt vor ihm und sah ihm uneingeschüchtert in die Augen, ohne auch nur zu zwinkern.
»Kommen thie mir nithcht thu nahe …«
Räuspernd wollte er es gerade noch einmal versuchen, da fasste sie an sein Kinn, als wollte sie nach seiner Zunge sehen.
Marvin spannte sich an. Sein gesamter Körper erhitzte sich und mit einem Kraftaufwand, als wollte er seine eigene Brust sprengen, schrie er sie an: »Fassen Sie mich

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