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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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widmeten sich dem Bett. All das taten sie wortlos. Genau das störte Marvin. Normalerweise unterhielten sich die Schwestern morgens früh beim Bettenmachen so lautstark, dass er sie in seinem Schlafensdurst verfluchte. Heute sagten sie nichts und die Peinlichkeit im Raum blähte sich unbarmherzig auf. Schweigend, mutmaßte er, unterdrückten sie Widerwillen und Lästerei.
Marvin saß halb nackt, entwürdigt, vor dem Spiegel im Toilettenstuhl, den Waschhandschuh in der Hand und begann, die Schwestern zu hassen. Er hasste sie dafür, dass er sich schämen musste. Er hasste sie dafür, dass er so krank war. Überhaupt hasste er das gesamte Krankenhaus, in dem er keine Hilfe, sondern nur weitere Übelkeiten erfuhr.
Die Ärztin erklärte Marvin etwas von nächtlichen Krampfanfällen und zerbissener Zunge. Heute noch würden sie ein neues MRT vornehmen. Sie ließen ihn allein.
Also würde er demnächst wohl nachts ersticken, das war ihm jetzt vollkommen klar, überfallartig und brutal. Ersticken, an seiner eigenen fleischigen Zunge! Ein Nachhelfen mit einem Kissen war gar nicht notwendig. Von wegen sanft in einer warm gefüllten Badewanne dahinsinken! Und das nur deshalb, weil sie ihm hier die falschen Medikamente gaben!
Marvin fühlte sich bedroht im Krankenhaus. Auch die vergeblichen Versuche, Frederik zu erreichen, beunruhigten ihn. Allein die Aussage des Klinikpersonals, Frederik sei auf eigenen Wunsch nach Hause entlassen worden, garantierte ja nicht seine Ankunft dort. Inzwischen glaubte Marvin nichts mehr. Nach all den verdächtigen Bemerkungen konnte er ein Verbrechen ja nicht ausschließen. Dieser André – verstorben, nachdem eine Verwechslung ans Licht gekommen war. Frederik – verschwunden! War er tot?
Wusste Marvin, welche Medikamente sie ihm in den Tropf gaben oder was sie ihm sonst noch so verabreichten? Jeden Tag ging es ihm hier schlechter. Was sollte das denn für eine Behandlung sein, die sein Leiden verschlimmerte? Es musste sich Absicht dahinter verbergen! Eine allmähliche, aber sichere Vergiftung mit Medikamenten! Mit jeder Tablette und jeder Infusion ein bisschen mehr. Nichts war doch einfacher, als eine falsche Medikation im Krankenhaus. Wem sollte das auffallen? Die gesamte Klinik erschien ihm plötzlich als ein Ort des Verbrechens, sämtliche Schwestern und Pfleger als Giftmischer, jede Putzfrau eine Spionin. Er fühlte sich verfolgt. Doch wem sollte er sich anvertrauen?
Am Nachmittag verschoben sie sein MRT angeblich auf Morgen. Doch Morgen war immer noch Wochenende. Niemals würden sie am Wochenende eine solche Untersuchung vornehmen, das wusste er.
Samstags abends war die Schwellung seiner Zunge bereits abgeklungen und er konnte wieder besser sprechen. Nur manchmal versagte sie ihm aus unerklärlichen Gründen dennoch den Dienst.
Marvin begann, die Tabletten zu untersuchen, bevor er sie argwöhnisch nahm, und ließ sich die Packungsbeilagen zeigen. Wenn sie André und Frederik auf dem Gewissen hatten, hinderte sie nichts daran, auch Marvin so schnell wie möglich ins Jenseits zu befördern!
»Ich wollte nur mal wissen, womit Sie mich vergiften!«, sagte er zu einer Schwester, die ihm widerwillig die Packungsbeilage für seine mittäglichen Tabletten vorbeibrachte. Kurz bevor sie durch die Tür enteilte, hielt er sie auf.
»Sagen Sie, ich habe Schülerin Elke lange nicht gesehen. Hat sie Urlaub?«
Erstaunt sah sie ihn an.
»Schülerin Elke?«
Sie fragte in einem Tonfall, als hätte sie noch nie etwas von Elke gehört oder gesehen.
Marvin erschrak. Das konnten sie doch nicht abstreiten! Hundertprozentig hatte er mit ihr gesprochen und viele andere Patienten mussten sie auch gesehen haben. Er beschrieb sie, mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme: »Klein, mit roten Haaren, Sommersprossen im ganzen Gesicht und auf den Armen.«
»Ach die! Die kenne ich!«, fiel es der Schwester ein. Im Umdrehen fügte sie hinzu: »Aber die arbeitet hier nicht mehr.«
»Was? Wieso nicht?«
Marvin war geschockt.
»Die war zu langsam. Ist rausgeflogen.«
Ihr Ton klang arrogant. Etwas zu laut warf sie die Tür zu.
Unglaublich! Sofort durchfuhr es ihn. Elke hatte ihm den Namen verraten! Den Namen von André Hausner. Es war zu eindeutig. Nun war auch sie fort. Einfach weg, gekündigt, die Arme. Kein engelhaftes Lächeln mehr, welches ihn die Krankheit für einen Moment vergessen ließ.
Rücklings im Bett liegend, trauerte Marvin dem einzigen Menschen nach, dem er in diesem Krankenhaus hatte vertrauen können.

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