Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
nicht an!«
Sabine zuckte zurück. Für einen Moment schien sie nicht zu wissen, was sie tun sollte. Sie blinzelte. Dann entschied sie sich wohl zu einer beruhigenden Geste und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Das war zu viel! Marvin packte sie, vom Bett aus, mit einer Hand. Nicht am weißen Schwesternkragen, sondern am Hals. Er drückte so fest zu, dass sie ihn hektisch mit ihren Händen abzuwehren versuchte. Er hatte nicht die Kraft, die er im gesunden Zustand gehabt hätte. Die Finger der einen Hand alleine konnten sie nicht wirklich zum Schweigen bringen. Doch dafür benutzte er seinen gesamten Körper. Marvin zog sich an ihr hoch, bis er stand in seinem Schlafanzug, stieß ihr den Ellenbogen des spastischen Armes vor die Brust und zwang sie mit dem Gewicht seines mageren Rumpfes rücklings auf seine Matratze. Die Matratze, auf welche er vor Tagen eingenässt hatte. Er drückte sie so fest darauf, als wollte er sie damit verschmelzen. Es tat so gut! All die angestauten Aggressionen, wie sie sich mit dem Gefühl von Macht vereinten, in dem sie sich über diese mächtige Krankenschwester ergossen. Genugtuung für die entwürdigende Scham – so lange, bis sie lieber stillhielt. Sie zappelte nicht und sie winselte nicht. Sie lag einfach nur unter ihm, entsetzt, mit aufgerissenen Augen, aber still. Wie gelähmt vor Schreck.
Und Marvin starrte zurück. Auf ihren angstvollen Gesichtsausdruck, ihre blasse Haut mit den ersten feinen Fältchen um die Augen, ihre gerunzelte Stirn, das naturblonde Haar in dicken Strähnen aus dem sonst so korrekten Zopf herausgerupft. Ihre Augen waren hellblau und klar, ohne jede Marmorierung, ihre Lippen ungeschminkt und weich gefüllt, hellrosa, dabei leicht geöffnet vor Schreck.
Marvin löste den Griff an ihrem Hals. Seine Kräfte schwanden mit der abreagierten Wut und er merkte plötzlich, wie laut er atmete vor Anstrengung. Auf einmal tat sie ihm leid. Mit dem Daumen strich er über ihre Halsfalten bis hinunter zu der kleinen Kuhle unterhalb des Kehlkopfes. Doch er drückte nicht hinein, strich nur vorsichtig darüber, fasziniert von ihrer weichen warmen Haut, etwas, was er lange nicht mehr spüren durfte. Marvin hörte auch sie atmen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie hatte Angst vor ihm.
Und während er sie so ansah, fragte er sich, was er eigentlich gerade tat. Er fand sich – eine kleine Krankenschwester würgend, auf sein Bett gezwungen, sich über sie beugend – im Begriff, wer weiß was zu begehen. Er war nicht mehr er selbst! Jetzt war es Marvin, der sich vor Schreck nicht bewegte. Er konnte nicht fassen, in welche Situation er sich und Sabine gebracht hatte, und irgendwie wusste er nun nicht, wie er als nächstes handeln sollte.
Dann regte sie sich, griff an sein Handgelenk und schob seinen Arm zur Seite, sodass sie endlich frei war. Er ließ von ihr ab, setzte sich auf das Bett und beobachtete, wie sie sich aufrichtete, ihn immer noch verwirrt ansah und wie sie schließlich aufstand von seinem intimen Laken, ihren Kittel glatt strich, ihren fleckig roten Hals befühlte und die herausgerupften Strähnen wieder in das Haarband zwang. Mit diesen wenigen Handgriffen verwandelte sie sich von einer verletzlichen zarten Frau zurück in eine Krankenschwester.
Sie blickte ihn an, dann ging sie wortlos und schloss leise die Tür hinter sich.
›Sie wird mich anzeigen!‹, dachte Marvin. Man würde ihn aus der Klinik verweisen und vielleicht sogar in eine Anstalt stecken. Er war gemeingefährlich!
Ihm war, als hätte ihn jemand mit dem Kopf durch eine Wand gestoßen, die ihn von der wirklichen Welt getrennt hatte. Er war durchgedreht, ganz einfach durchgedreht. Nicht nur gerade eben, eine Krankenschwester würgend auf seinem Bett, sondern den gesamten Zeitraum über. Als ob man ihn in einem Krankenhaus umbringen wollte! Oder vergiften! Lachhaft! Wie hatte er sich nur selbst so verlieren können?
Je mehr Marvin darüber nachdachte, desto mehr schämte er sich. Nie mehr würde er dem Klinikpersonal in die Augen sehen können. Und Lisa? Wie würde sie reagieren, wenn sie von seiner Gewalt gegen Sabine erführe?
Marvin wartete darauf, jeden Moment von zwei kräftigen Pflegern in eine Zwangsjacke gesteckt und herausgetragen zu werden. Vielleicht kämen auch nur zwei Polizisten, bewaffnet, die ihn in Handschellen an den Rollstuhl fesseln und hier wegschaffen würden.
Doch es kam niemand.
Sonntags kam der Chefarzt zum Händeschütteln, begleitet von einem Trupp Ärzte und
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