Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Zimmer. Über eine weitere Therapie wollte man noch mit ihm und Lisa sprechen. Die entkrampfenden Medikamente wirkten, seine Arme wurden lockerer, sein Bein auch. Dafür schlief er dauernd unabsichtlich ein.
Ein paar Tage später stand er früher auf, um der Frühschicht zu entgehen. Er mühte sich aus dem Bett, bis er schließlich stand, angelehnt an dem Gitter, welches sie für ihn angebracht hatten. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm ganz gut, nur sein Kopf dröhnte furchtbar.
Er wollte weg von hier, raus aus der Klinik, geschürt von der Angst, hier zu sterben. Dinge mussten erledigt werden, ein Testament wollte geschrieben sein. Da er aber Stunden gebraucht hätte, um ohne Hilfe in seine Straßenkleidung zu kommen, versuchte er es lediglich mit dem Morgenmantel. Er schlug die Seiten einfach nur übereinander und ließ sich mit dem Po in den Rollstuhl fallen, bereits jetzt außer Atem. Sein Kopf brummte, als verrichtete ein Presslufthammer Ausbesserungsarbeiten in seinem Gehirn. Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein – er hatte vergessen, zu kotzen. Das allmorgendliche Ritual.
Nachdem er sich fast zur Toilette geschoben hatte, war es zu spät für eine Flucht. Die Frühschicht rollte an. Sie hielten ihm eine Brechschale hin, wuschen ihn und brachten ihn zurück ins Bett. Marvin ließ sie arbeiten und begnügte sich damit, die Schwestern zu beschimpfen. Sabine war nicht dabei. Nachdem die Schwestern wortlos, wie jetzt jeden Morgen, durch die Tür entschwunden waren, rief er Basti an. Sein Bruder sollte ihn abholen.
Wie erwartet, fragte Basti nicht, ob Marvin offiziell entlassen worden war und ob Lisa überhaupt etwas von seiner Heimkehr wusste. Er fuhr Marvin im Rollstuhl zur Pforte, stopfte die Taschen und keiner der Schwestern fiel Marvins Fortgehen auf. Oder aber, sie freuten sich insgeheim, diesen unverschämten Patienten loszuwerden und taten so, als merkten sie es nicht.
Ohne Misstrauen begleitete Basti ihn im Taxi nach Hause. Das Krankenhaus nicht auf eigenen Beinen verlassen zu haben, ärgerte Marvin. Trotzdem fühlte er sich erleichtert. Es gab ihm für einen Moment das Gefühl, als hätte er die schwere Krankheit überstanden und wäre nun auf dem Weg zur Besserung entlassen worden. Ein schöner Gedanke. Adieu hellgelbe Krankenhauswäsche. Adieu kahler Krankenhausgang. Zu Hause wollte er Lisa anweisen, auf keinen Fall gelbe Wäsche aufzuziehen.
Basti schloss die Tür mit Marvins Schlüssel auf und stützte ihn bis zum Wohnzimmersofa. Dann trug er ihm noch sämtliche Taschen herein, die Lisa für Marvin ins Krankenhaus geschleppt hatte.
Naheliegenderweise war nichts für seine Ankunft vorbereitet worden. Marvin blickte sich vom Sofa aus im Zimmer um. Der Raum kam ihm dunkel vor, dunkler als sonst. Wahrscheinlich lag es daran, dass hier im Gegensatz zum Krankenhauszimmer richtige Möbel standen. Es hingen Bilder an farbigen Wänden und nicht nur ein düsteres Kreuz an einer kargen Mauer. Und vor allem – nichts hier erinnerte an Gelb. Wie wohltuend!
Trotzdem fühlte Marvin sich auch ein bisschen fremd. Er saß auf seinem eigenen Sofa und hatte das Gefühl, ein Gast zu sein. So weit er sehen konnte, hatte sich nichts geändert in seinem und Lisas Zuhause. Alles stand an seinem Platz. Nur auf dem Esstisch erblühte ein riesiger bunter Blumenstrauß mit orangefarbenen Lilien und in einer Ecke am Boden stand ein kleiner silberner Hundenapf.
»Und jetzt?«, fragte Basti, nachdem er das Gepäck in die Diele geworfen hatte. Er ließ sich Marvin gegenüber auf das Sofa fallen, ohne die Lederjacke auszuziehen und streckte sich breitbeinig aus.
Marvin dachte nach. Schwierig genug, denn sein Kopf schmerzte, wie noch nie.
»Brauchst du immer noch das Geld, von dem du sprachst?«
Basti hob überrascht die Brauen. »Wie meinst du das?«
»Du könntest es dir verdienen.«
»Verdienen?«
Ohne seinen Kopf zu bewegen, rutschte Marvin mit dem Oberkörper in eine andere Position. Sein Bruder stand auf, um ihm ein Kissen auf der Lehne zurechtzulegen.
»Leg’ dich doch hin.«
Doch dazu hätte Marvin den dröhnenden Kopf in Bewegung bringen müssen. So winkte er ab.
»Ich brauche Hilfe. Du hast doch keinen festen Job zurzeit?«
Basti schüttelte den Kopf.
»Gut, dann hast du jetzt eine gut bezahlte Aufgabe.«
»Was erwartest du von mir«, fragte Basti, die Stirn misstrauisch in Falten gelegt.
»Keine Angst, du brauchst mich nicht zu waschen! Aber als Erstes solltest du jemanden anheuern, der das kann. Lisa ist nicht die Richtige
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