Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Schwestern. Sabine oblag es, einen Bericht über Marvins Zustand abzugeben. Sein Herz klopfte, doch sie erzählte nichts Neues, bis sie am Ende hinzufügte, der Patient leide unter irrealen Vorstellungen und neige zu Verfolgungswahn. Von seinem Angriff auf sie erwähnte sie aber nichts, obwohl Marvin verstohlenen Blickes eine deutlich gerötete Stelle an ihrem Hals entdeckte.
Plötzliche Stille erfüllte den Raum. Sechs Augenpaare musterten ihn brandmarkend, jeder der Besitzer der Augen davon überzeugt, einen geistig komplett verwirrten Menschen vor sich zu sehen. Die Röte, die in sein Gesicht kroch, verspürte Marvin wie eingebrannten Spott. Indessen flüsterte Sabine dem Chefarzt noch etwas ins Ohr, was Marvin nicht verstand. Der Chefarzt nickte den anderen zu.
»Dürfte ich Sie bitten, mich mit dem Patienten allein zu lassen?«
Widerspruchslos verschwand die weiße Schar. Alleine mit dem Professor im Zimmer fühlte Marvin sich unbehaglicher als zuvor. Der setzte sofort an.
»Hören Sie, Herr Abel! Ich weiß nicht genau, was Ihnen Ihr Mitpatient erzählt hat. Aber glauben Sie mir, das ist alles Unsinn. Der Mann, von dem hier wohl die Rede ist, der Verstorbene, war sehr krank und es war genau Ihr netter Mitpatient, der auch diesen jungen Mann mit seinen Geschichten beunruhigt hat.«
Marvin wollte etwas sagen, wissend, dass er noch dunkler rot anlief, als vorher. Er schaffte es nicht, diesem Mann gegenüber selbstsicher aufzutreten. Es musste an den Räumlichkeiten liegen, die der Autorität des Professors einen unabdingbaren Platz zubilligten. Fast hatte er Angst, der Chefarzt könnte die Diagnose verschärfen! Wieder ließen Marvins Lippen nur einen kläglichen Satz zur Sprache kommen. Zu allem Unglück verwehrte ihm die eben noch gesprächige Zunge plötzlich eine deutliche Aussprache.
»Ethhhs …«
Räuspern.
»Ethhs hieth, eth habe eine Fehldiagnothe gegeben.«
Der Chefarzt entgegnete knapp. »Wir stellen hier keine Fehldiagnosen. Damit das klar ist! Und wir vergiften hier auch keine Patienten. Sollten Sie so etwas in meiner Klinik verbreiten, bekommen Sie Ärger mit mir. Haben Sie verstanden?«
Marvin schwieg.
»Sie müssen auch nicht bei den Verwandten fremder Menschen anrufen. Diese haben genug Trauer zu bewältigen und das Letzte, was sie brauchen, sind Leute, die ständig bei ihnen anrufen, ohne sich zu melden und wenn, dann so zu tun, als hätten sie sich verwählt.«
Er stoppte, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. Marvin schwieg weiter. Seine jämmerlichen Sätze waren ihm inzwischen peinlich. Nicht nötig, noch mehr davon von sich zu geben.
Der Professor beugte sich näher zu ihm hin und sprach in sein Gesicht: »Wissen Sie denn nicht, dass Ihre Telefonnummer über das Display übertragen wird?« Dann richtete er sich wieder auf. »Na ja, unter Berücksichtigung Ihrer Erkrankung … ich weiß, Sie können nichts dafür. Überlegen Sie doch mal, bei der wenigen Zeit, die Ihnen bleibt – wäre es nicht sinnvoller, sich mit bedeutungsvolleren Fragen zu beschäftigen? Die Dinge des Lebens zu regeln, ein Testament zu erstellen … haben Sie daran schon gedacht?«
Der Professor wartete längere Zeit auf eine Erwiderung. Als er merkte, dass nichts mehr zu erwarten war, fasste er nach Marvins Mütze und zupfte daran.
»Haarausfall?« Seine Stimme klang beschwichtigend.
Marvin wich aus. Er rückte die Mütze wieder zurecht, die leider nicht seine heißen Ohrmuscheln verdeckte.
Der Tumor wuchs – trotz Chemotherapie, genau so, wie er es vor Wochen im Internet gelesen hatte. Das Ungetüm breitete sich in seinem Kopf aus und presste durch seinen habgierigen Platzbedarf das gesunde Gewebe einfach an die Schädelwand.
Als Ergebnis erhielt Marvin nun diese abartigen Kopfschmerzen und zwei nahezu unbrauchbare Arme. Nur starke Schmerzmittel machten es ihm einigermaßen erträglich und das Wunder der Medizin entkrampfte auch seine Arme wieder. Wäre das nicht genug, hatte der Tumor auch noch Nachwuchs bekommen. Das MRT offenbarte ein zweites Glioblastom, wieder inoperabel. Unfassbar für Marvin, der Chefarzt – der übrigens kein Wort mehr über die Sache mit André verlor – war trotzdem mit ihm zufrieden. Nur wenige Menschen mit seiner Erkrankung hätten das Glück, so lange klar denken zu können wie er – zumindest zeitweise, wie er dann noch bemerkte. Was für ein Trost! Marvin bezweifelte, ob das überhaupt als Vorteil gelten sollte. Man fuhr ihn, inzwischen an den Rollstuhl gewöhnt, zurück ins
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