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Der Tod kommt wie gerufen

Der Tod kommt wie gerufen

Titel: Der Tod kommt wie gerufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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großer, weißhaariger Mann, der auftrat wie ein Fünf-Sterne-General. Er wartete bereits mit einer Brechstange in der einen Hand und einem Regenschirm in der andern, als wir am Tor an der Sixth Street vorfuhren. Es regnete wieder, ein leichtes, aber stetiges Nieseln. Schwere, grau-schwarze Wolken sahen aus, als würden sie sich bei der nächsten Gelegenheit entladen wollen.
    Slidell gab Burkhead die wichtigsten Informationen, dann gingen wir durch das Tor. Der Regen trommelte einen sanften Rhythmus auf das Schild meiner Kappe und den Rucksack, den ich auf einer Schulter trug.
    Manche Leute betrachten Schweigen als eine Leere, die gefüllt werden muss. Burkhead war einer von ihnen. Vielleicht war er aber auch einfach nur stolz auf sein kleines Königreich. Unterwegs bedachte er uns mit Erläuterungen, die wir kein einziges Mal unterbrachen.
    »Elmwood ist eine kulturelle Enzyklopädie. Charlottes Ärmste und Reichste liegen hier, Veteranen der Konföderierten direkt neben afrikanischen Sklaven.«
    Nicht in diesem Teil, dachte ich beim Anblick der vom Neoklassizismus inspirierten Obelisken, der mächtigen, oberirdischen Sarkophage, der tempelähnlichen Familiengruften, der sorgfältig behauenen Granit- und Marmorblöcke.

    Im Gehen deutete Burkhead mit seiner Brechstange hierhin und dorthin, wie ein Fremdenführer, der in der Nekropolis von Theben Pharaonen identifiziert. »Edward Dilworth Latta, Bauunternehmer. S.S. McNinch, ehemaliger Bürgermeister.«
    Mächtige Harthölzer vereinigten sich über uns zu einem Blätterdach, das Laub glänzend, die Stämme dunkel vor Feuchtigkeit. Zypressen, Buchsbaum und blühende Sträucher bildeten eine nasse, weite Ebene. Grabsteine erstreckten sich bis zum Horizont, grau und düster im beharrlichen Regen. Wir kamen an einem Denkmal für Feuerwehrleute vorbei, einer kleinen, steinernen Blockhütte, einem Kriegerdenkmal der Konföderierten. Ich sah die üblichen Grabsymbole: Lämmer und Engel für Kinder, blühende Rosen für junge Erwachsene, das orthodoxe Kreuz für Griechen, Zirkel und Winkelmaß für Freimaurer.
    Zwischendurch blieb Burkhead an einem Grabstein stehen, in den die Darstellung eines Elefanten eingemeißelt war. Feierlich las er uns die Inschrift laut vor:
    »›Errichtet von den Mitgliedern des John Robinson’s Circus im Andenken an John King, getötet in Charlotte, North Carolina, am zweiundzwanzigsten September achtzehnachtzig von dem Elefanten Chief. Möge seine Seele in Frieden ruhen.‹«
    »Und?«, brummte Slidell.
    »O ja. Das Vieh drückte den armen Mann gegen einen Eisenbahnwaggon. Der Unfall war damals eine ziemliche Sensation. «
    Mein Blick wanderte zur Marmorstatue einer Frau einige Gräber entfernt. Angezogen vom Schmerz in ihrer Haltung ging ich darauf zu.
    Die Frau kniete, eine Hand stützte ihr Gesicht, die andere hing, einen Rosenstrauch haltend, schlaff herab. Die Detailarbeit in Kleidung und Haaren war herausragend.
    Ich las die Inschrift. Mary Norcott London war 1919 gestorben. Sie war vierundzwanzig. Das Denkmal war von ihrem Ehemann, Edwin Thomas Cansler, errichtet worden.

    Ich dachte an den Schädel in meinem Labor. Gehörte er wirklich Susan Clover Redmon?
    Mary war Edwins Frau gewesen. Sie war so jung gestorben. Was für ein Mensch war Susan gewesen? Was für ein Unglück hatte ihr Leben derart verkürzt? Ihr Glück beendet oder ihr Leid, ihre Hoffnungen oder Ängste?
    Hatten trauernde Eltern Susans Sarg voller Liebe ihrem Grab übergeben? Dachten sie an ein Mädchen, das Malbücher mit Buntstiften ausfüllte, das mit seinem brandneuen Schulranzen in den Bus stieg? Hatten sie geweint, voller Kummer darüber, dass das Versprechen ihrer Zukunft nie in Erfüllung gehen würde?
    Oder war es ein Ehemann gewesen, der ihren Tod betrauert hatte? Geschwister?
    Slidells Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Hey, Doc. Kommen Sie?«
    Ich holte die anderen wieder ein.
    Weiter im Osten ging die leicht krummlinige Anlage des Friedhofs in ein rechtwinkliges Gitternetz aus Gräbern über. Es regnete jetzt heftiger. Ich hatte mein triefendes Sweatshirt gegen eine MCME-Windjacke getauscht. Schlechte Entscheidung. Das dünne Nylon hielt mich weder warm noch trocken.
    Schließlich kamen wir in einen Bereich mit nur wenigen kunstvollen Grabsteinen. Die Bäume waren noch immer alt und stattlich, aber die Anordnung wirkte natürlicher, weniger starr. Ich vermutete, dass wir die Grenze überschritten hatten, die früher von dem Maschendrahtzaun gesichert

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