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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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zu meiner Hochzeit kommen?«
    »Wie soll das denn gehen, ich kann ja kaum noch laufen, du kennst doch Capri, dort ist es so steil, man kommt da nur zu Fuß
     herum, ich weiß nicht, wie du dirdas vorstellst. Könnt ihr nicht in der Nähe von Berlin heiraten?«
    Sie fühlte sich überfordert. Sie fühlte, wie das Leben an ihr vorbeizog. Sie fühlte sich vom Leben gedemütigt.

    Es ging dann doch.
    Meine Mutter strahlte, als sie meine Frau das nächste Mal sah, mit der sie freundlich war und vorsichtig, es war, als ob der
     Respekt, der die Distanz zwischen ihnen überbrücken sollte, in so etwas wie Zuneigung umschlagen könnte. Sie schrieb meinem
     Vater nach all den Jahren einen Brief, von dem sie mir erst später erzählte. Sie traf sich mit ihm und seiner Frau, im Haus
     meines Vaters, es war nicht leicht, sagte sie später, aber es war ihr wichtig, dass sie sich nicht erst bei der Hochzeit zum
     ersten Mal seit fast 30 Jahren wiedersahen. Es erinnerte sie wohl auch ein wenig daran, so schien es mir, wer dieser Mann
     gewesen war, den sie eine Weile geliebt hatte, und etwas verband sich mit ihrem früheren Leben, das sie so lange nicht wahrhaben
     wollte.
    Sie lebte auf diesen Tag, auf diese Tage in Sorrento hin, sie sammelte Energie, sie konzentrierte ihre Gedanken, sie fand
     Kraft, die über die Hochzeit hinaus anhielt. Sie konnte für sich etwas beenden, das sie schon vor langer Zeit beendet geglaubt
     hatte.
    Wie schwer ihr das fiel, das merkte ich an dem Abend, an dem wir die standesamtliche Trauung feierten, in einem italienischen
     Restaurant in München. Die Eltern meiner Frau waren da, ihre drei Geschwister, meinVater, seine Frau und einer unserer Trauzeugen mit seiner Frau. Meine Mutter saß neben mir, sie war angespannt, und wenn sie
     etwas sagte, dann war das kurz und spitz. Als sie einmal lachte, bildete sich eine kleine Falte oberhalb ihrer Nase, wie ich
     das noch nie gesehen hatte. Sie war blass, und irgendwann flüsterte sie mir zu, wie sehr sie sich über das alles freute, dass
     sie aber fürchtete, ich könnte von der Familie meiner Frau verschluckt werden. Ich könnte sie vergessen und auch meinen Vater,
     die zerbrochene Ehe und das Erbe, das sich damit verband. Sie hatte, mit anderen Worten, Angst davor, dass ich dem Sog der
     heilen Familie erliegen könnte. So wie es ihr ergangen war.
    Familie war für sie ein schwieriges Wort, sie war davor geflohen, vor diesem Wort, dann hatte sie es gesucht, dann war sie
     wieder geflohen. Familie, das sah sie an diesem Abend, konnte auch Stärke bedeuten, und das machte sie skeptisch und neidisch
     und traurig. Sie spürte eine Schwäche, die körperlich war, aber auch biografisch. Sie war krank. Sie war allein. Sie merkte,
     dass es doch nicht so leicht war, den Sohn herzugeben.
    Zur Hochzeit wollte sie uns ein Familienalbum schenken, ausgerechnet sie, ein Buch, in dem der Stammbaum ihrer Familie verzeichnet
     war, als sei es ein Beweis, für was auch immer. Sie erzählte mir davon, als wir zusammen allein inmitten der anderen Hochzeitsgäste
     standen. Sie hatte eine gelbe, durchscheinende Jacke an. Sie wirkte, als wollte sie glücklich sein.
    Vor dem Hochzeitsessen kam sie kurz zu meiner Frauund sagte, wie sehr sie sich freute, und schaute durch den Raum, der voller Menschen war, und hinaus auf das weite, einsame
     Meer und sagte dann, dass sie eigentlich eine kleine Rede halten wollte, die davon handelt, wie und warum sich Menschen trennen.
     Sie hielt die Rede nicht und schaute und lächelte und ging kurz vor Mitternacht ins Bett.
    Es gibt ein Foto von den Tagen vor der Hochzeit, da sieht man meine Mutter an einem großen Tisch sitzen in dem Restaurant
     des Hotels, von dem aus man so weit über den Golf von Neapel sehen kann und bis zum Vesuv, sie sitzt da vor den blauen Kacheln
     und dem blauen Meer, und neben ihr sitzt mein Vater. Er lehnt sich ein wenig in ihre Richtung, sie lehnt sich ein wenig von
     ihm weg. Beide versuchen zu lächeln. Bei meinem Vater wirkt es, als könne er mit diesem Lächeln den Schmerz vergessen machen;
     bei meiner Mutter wirkt es, als sei das Lächeln der Schmerz.
    Es gibt noch ein Foto, da sitzt meine Mutter auf einem der kleinen Elektrowagen, mit denen die Leute in Capri durch die engen
     Gassen fahren, sie sitzt dort, weil sie den Weg zur Kirche nicht laufen konnte, und sie schaut aus wie ein Mädchen, das sich
     selbst wundert, warum es dieses Abenteuer mitmacht.
    Und es gibt das Foto vom Abend der Hochzeit,

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