Der Tod meiner Mutter
wir stehen alle am Pool und das Wasser leuchtet vom Meer herauf und der Himmel
strahlt, als sei es das erste Mal, und meine Mutter steht da in dieser gelben Seidenjacke und hält die Hand meiner Frau und
schaut sich denEhering an, und ich schaue auf sie herunter, und sie wirkt fein, sie wirkt klein, sie wirkt wie ein Gast, über den man sich
freut, solange er da ist.
Es gibt fast nur diese Fotos, in meiner Erinnerung ist sie bei dieser Hochzeit schon an den Rand gerückt. Meine Mutter hatte
die Krebsbehandlung unterbrochen, damit sie bei dem Fest dabei sein konnte; vier Tage, nachdem sie aus Sorrento zurück war,
ging die Chemotherapie weiter.
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Wenn es so weit ist«, sagte meine Mutter eines Tages, »dann fahre ich in die Schweiz.« Das war im Herbst 2005, ein paar Monate
nach meiner Hochzeit. Die Hoffnung war da, aber auch die Erschöpfung.
Sie sagte das so, als ob ich schon wüsste, was sie meinte. Und ich hätte es wissen können, sie hatte schon einmal davon gesprochen,
vor ein paar Jahren war das gewesen, und ich hatte es in dem Augenblick vergessen, als sie es gesagt hatte. Das mit der Schweiz,
der anderen Schweiz, nicht der ihres neuen Lebens, der Theaterabende und der frischen Forellen im Restaurant am Rhein. Sie
sprach von der Schweiz ihres freien Sterbens.
Ich hatte es mir damals nicht merken wollen. Ich war gut darin, solche Dinge zu verdrängen.
Sie schaute mich an und wartete, was ich sagen würde. Ich griff nach der Wasserflasche, die auf dem Tisch stand, und goss
erst ihr ein, dann mir. Mein Glas war noch fast voll.
Es war dunkel im Zimmer, jedenfalls wurde es jetzt dunkel. Das Licht war noch nicht eingeschaltet, das Licht über dem Tisch.
»Wenn du das willst.«
»Du weißt doch, dass ich dort Mitglied bin.«
»Ja. Nein. Mitglied, wie das klingt.«
»Ich will das so. Ich will nicht ewig dahinsiechen und im Krankenhaus liegen mit all den Apparaten und die Leute schneiden
noch an mir herum. Ich will, dass du das weißt. Ich will, dass du mir hilfst. Versprich mir das bitte.«
»Ich soll dir was versprechen?«
»Dass du das tust, was ich will, wenn es so weit ist.«
»Aber das ist doch jetzt gar nicht aktuell.«
»Ich will nur, dass du es weißt.«
»Ja, ich weiß, ich weiß.«
Dignitas also. Ich versuchte mich zu erinnern, Monate später, als es ihr schon so schlecht ging, dass sie nicht mehr reisen
konnte, auch nicht in die Schweiz. Dignitas, dachte sie, würde ihr das bieten, was sie suchte.
Ich fand vor allem, dass es ein doppelt scheußliches Wort war, Dignitas, lateinisch und verlogen, so kam mir das vor, und
dann war die Firma noch in der Schweiz, das klang wie letales Löffelverbiegen, irgendwie sektenhaft. Und auch »Sterbehilfe«,
denn darum ging es ja bei Dignitas, auch das klang nicht besser, zwei Worte, die aneinandergekettet sind und im Grunde nichts
miteinander zu tun haben wollen, wie zwei Ausbrecher humpeln sie nebeneinander her, das Wort ist ein Euphemismus und eine
Täuschung. Ich habe einmal Fotos gesehen von den Zimmern, in denen man das tut, sich hinlegen,das Medikament nehmen, wegdämmern. Leere, fade Zimmer, in denen man nicht leben wollte, warum wollte man dort sterben?
Und trotzdem verstand ich meine Mutter. Ich verstand die Theorie, ich mochte aber die Praxis nicht. Es ging darum, die Freiheit,
für die sie ihr Leben lang gekämpft hatte, auch im Sterben zu bewahren.
»Ich will, dass du mir hilfst.« Sterbehilfe kann man einerseits sehen als Vorstufe zu einer neuen Form der Euthanasie, als
Mittel für Gesellschaftsvisionäre, die das Problem der alternden Gesellschaft dadurch lösen wollen, dass die Menschen sich
lieber rechtzeitig umbringen, bevor sie überhaupt zum Problem werden. Sterbehilfe ist andererseits ein Akt der Autonomie,
mit dem man sich einem tödlichen Automatismus entziehen kann – dass den Menschen vorgeschrieben wird: wie sie zu altern haben,
im Heim und unter Aufsicht; wie sie gepflegt werden, hastig und kostengünstig; wie sie sterben, an Schläuchen und ziemlich
allein.
Alles das ist abstraktes Gerede, wenn man spürt, wie der Knoten unter der Achsel wiederkommt; wenn man jeden Tag in sich hineinhorcht,
schaut, tastet, ob da was ist, was noch nicht da war, was da nicht hingehört; wenn man also die Krankheit tatsächlich als
ständigen Begleiter hat und die zunehmende Schwäche die Niederlage schon ankündigt und Hoffnung etwas ist, das man jedem Tag
neu abtrotzen muss und
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