Der Tod meiner Mutter
manchmal auch jedem Aufstehen und jedem Gang zur Toilette.
Man kann also den Selbstmord planen, wenn eseinem gut geht, und sogar dann, wenn man krank ist. Aber wie findet man den Zeitpunkt, an dem es gar nicht mehr geht, an
dem man so schwach ist, dass man es nicht mehr aushält, sich von gehetzten Pflegerinnen waschen und füttern zu lassen und
so lange auf dem Klo zu sitzen, bis man weinen möchte – und trotzdem stark genug ist, noch mal mit seinem Sohn zu telefonieren
oder mit ihm essen zu gehen, ihm zu sagen, was man vorhat, oder nichts davon zu sagen, sich in den Zug zu setzen, ohne Gepäck,
aus dem Zug auszusteigen und durch die Stadt zu fahren und in dieses Haus zu gehen, mit einem Menschen zu sprechen, den man
noch nie gesehen hat, sich in ein Zimmer zu setzen, das fremd ist, noch einmal nachzudenken und die Tür zu verschließen und
das Licht auszumachen, ein letztes Mal?
Meine Mutter hatte alles Recht zu tun, was sie plante. Und trotzdem dachte ich: Ich will nicht, dass sie geht, ohne mir etwas
zu sagen. Ich will aber auch nicht, dass sie mir sagt, so, jetzt gehe ich. Ich will nicht, dass sie leidet, ich will nicht,
dass sie stirbt. Ich will vor allem nicht, dass sie mir wehtut.
Ich fand es egoistisch von ihr, weil meine Mutter mir so mit Dignitas den Tod rauben würde, weil ich ihr Sterben nicht begleiten
könnte, weil mir ein Teil der Erinnerung an sie fehlen würde.
Wir sprachen nicht mehr davon, und ich dachte auch nicht, dass sie es tun könnte. Ich dachte nur manchmal, wenn ich bei meinem
Vater war, was es für seltsame Symmetrien und Asymmetrien in Familien gibt.Wie sich die zweite Frau meines Vaters mit christlicher Nächstenliebe für die Hospizbewegung engagiert und für deren Motto
»Pflegen bis zuletzt«. Und wie meine Mutter erst einmal die andere Seite wählte.
Sie war stolz darauf, ohne andere auszukommen. Vielleicht wollte sie auch nicht darauf vertrauen, dass ihr jemand helfen würde.
Vielleicht glaubte sie nicht mal, dass ich ihr helfen würde. Vielleicht wollte sie mich nicht belasten, mich freisetzen, nicht
beschweren. Vielleicht wollte sie auch ihre Freunde nicht belasten. Oder sie fragte sich, was ihre Freunde wohl tun würden,
wer ihre Freunde tatsächlich waren, wie sie reagieren würden, wenn sie, diese starke, stolze, unabhängige Frau auf einmal
schwach wäre. Wenn sie anrufen und sagen würde: Bitte.
»Die können mal wieder nicht«, sagte sie und ihr Blick wanderte durch den Garten und weiter in die Ferne. Sie war sich nie
sicher, ob es halten würde, und es hielt auch oft nicht. Zwischen meiner Mutter und ihren Freunden gab es schlingernde Bewegungen,
die sich manchmal durch Jahrzehnte zogen und manchmal nur ein Jahr dauerten.
»Die rufen mich nicht zurück« oder »Die redet immer nur von sich« oder »Die hängt so an mir«, das waren Sätze, die sie über
ihre Freunde sagte. Sie mochte es nicht, allein in einem Restaurant zu sitzen, sie mochte es nicht, allein neun Stunden nach
Italien zu fahren, sie machte manchen Kompromiss, weil sie zu Hausevielleicht einsam sein konnte, woanders aber nicht. Sie spürte, dass das eine Schwäche war, aber sie konnte daran nichts
ändern.
Die meisten ihrer Freunde waren jünger als sie, manche sogar deutlich. Sie hatte immer noch helle braune Augen, die ständig
etwas zu fragen schienen. Sie hatte eine weiche, fast mädchenhafte Nase, ein bestimmtes Kinn und eine unauffällige, fast beiläufige
Schönheit. Sie hatte ihr neues Leben begonnen, da war sie Ende 30, und sie studierte mit Leuten, die waren höchstens Mitte
20. Als sie anfing zu arbeiten, waren ihre Kollegen fast alle zehn Jahre jünger, sie gewöhnte sich daran, es machte ihr eine
Weile lang sogar Spaß, dass ihr Leben und ihr Alter auseinanderklafften. Sie dachte, sie könnte auch diesen Aspekt selbst
definieren. Sie glaubte nicht an die Biologie.
Wenn sie über das Alter sprach, dann machte sie Pläne. Sie wollte sich mit anderen zusammen eine Wohnung mieten, die groß
genug war für alle, sie wollte sich die Pfleger teilen, sie wollte das Alter neu definieren, so wie diese Generation schon
Ehe und Sex und vieles andere neu definiert hatte. Ein Altersheim war ausgeschlossen, sie wollte nicht mit Menschen zusammenleben,
die ganz anders waren und ganz anders dachten als sie, sie wollte keinen künstlichen Schnitt machen, sondern das Alter als
Fortsetzung ihres bisherigen Lebens sehen.
Das Problem war, dass sie
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