Der Tod meiner Mutter
eben sehr viel früher alt wurde als ihre Freunde. Und so blieb die Frage unbeantwortet, ob sie es
überhaupt geschafft hätte, sich in einerWohnung oder einem Haus mit anderen Leuten wohlzufühlen, selbst mit Leuten, die sie mochte. Sie hatte sich daran gewöhnt,
allein zu sein und allein zu leben, bei aller Einsamkeit, die das mit sich brachte. Sie hatte sich in ihrem Alltag eingerichtet.
Sie hätte sich noch einmal sehr umstellen müssen, ich glaube, das wusste sie auch.
Das Leben ihrer Freunde hatte einen anderen Rhythmus, das zeigte sich besonders, als meine Mutter ihre Krankheit immer schwieriger
verbinden konnte mit ihrer Vorstellung von Alltag. Die einen waren mit ihr seit 40 Jahren befreundet, sie hatten die Ehe und
die Scheidung miterlebt und kannten mich fast vom ersten Tag an – jetzt aber hatten sie drei Enkelkinder, um die sie sich
kümmern mussten. Die anderen hatten mit ihr studiert, sie hatten zusammen Streiks organisiert, als Geld für soziale Einrichtungen
gestrichen werden sollte, und sie kümmerten sich gern um ihren Garten – jetzt aber wollten sie sich selbstständig machen und
hatten nicht viel Zeit. Die Dritten waren mit ihr in den siebziger Jahren in St. Tropez gewesen, sie hatten Silvester gemeinsam
gefeiert, meine Mutter kochte für sie – jetzt aber drifteten sie nur langsam aufs Alter zu und fuhren in der Zwischenzeit
mit ihrem VW-Bus und ihren drei Söhnen durch Marokko.
Viele ihrer Freunde waren verheiratet, überraschend viele, wenn man an die sechziger und siebziger Jahre denkt. Meine Mutter
sagte manchmal einen beiläufigen Nebensatz oder sprach manchmal in einem besonderenTonfall, und dann merkte ich, dass sie noch immer nicht ganz fertig war mit diesem Thema.
Und wenn sie dann davon erzählte, wie wir mit unserem VW-Bus unterwegs gewesen waren, mit meinem Freund David zum Beispiel,
als wir zehn und zwölf Jahre alt waren, wir schliefen hinten, als wir um drei Uhr früh aus München wegfuhren und es dunkel
und kalt war, und wenn wir aufwachten, dann war es heiß und hell und wir sahen das Meer; oder die Nacht in Livorno, als wir
im Hafen übernachteten, weil wir auf die Fähre nach Korsika warteten, und draußen stank es und drinnen war es stickig, und
als wir dann auf der Insel waren, fanden wir wunderschöne Orte, wo wir den Bus direkt ans Meer stellen konnten, aber zum Duschen
mussten wir uns auf den Campingplatz nebenan schleichen, und einmal, das erzählte mir David bei der Beerdigung meiner Mutter,
einmal hatte sie mit dem Wirt in einem Restaurant am Strand den ganzen Abend lang getanzt, bis der wollte, dass sie dableibt,
aber wir sind weitergefahren, und ich hatte das alles völlig vergessen; oder später, als sie alleine nach Umbrien und nach
Südfrankreich fuhr, um Freunde zu besuchen, aber statt dort im Haus zu schlafen, übernachtete sie lieber in ihrem VW-Bus,
»das ist mein eigenes Bett«, sagte sie, »das riecht nach mir«, sie wollte noch in der Fremde das Eigene beschützen, es war
eine Höhle, die sie immer um sich hatte, ein Schutz im Alleinsein: Wenn ich ihr dabei zuhörte, dann wollte ich oft fragen,
wie sie es mit dem Gedanken aushielt, so vieles nicht mehr tun zu können.Ich wollte wissen, wie sich diese Traurigkeit anfühlt. Ich wollte wissen, was man dagegen tut, wenn man nichts mehr dagegen
tun kann.
»Ist der neu?«, fragte ich, als ich meine Jacke ausgezogen hatte und den durchsichtigen Tisch sah, der im Flur neben dem Bauernschrank
stand.
»Den habe ich mir letzte Woche gekauft. Schön, nicht? Und schau mal, ich habe auch alle meine alten Bücherregale rausgeworfen.
Schau mal. Sündteuer.«
Aus Plexiglas waren diese neuen Bücherregale, wie auch der kleine Schreibtisch im Flur, das CD-Regal und der Fernsehwagen.
Ein paar Wochen vor ihrem Tod wollte sie ihr Schuhregal, das aus Holz war, durch eines aus Plexiglas ersetzen. Als wollte
sie sich etwas beweisen.
Sie war noch oft alleine auf dem Viktualienmarkt einkaufen, in diesem Jahr 2005, sie war im Theater, sie machte Supervisionen
und plante ihr nächstes Buch. Sie arbeitete regelmäßig, sie saß mit ihrem neuen Apple-Notebook an dem Schreibtisch im Flur
und schrieb und rief manchmal einen Freund an, wenn sie nicht weiterwusste und eine Frage hatte, weil das Internet mal wieder
nicht funktionierte. In ihrem Kalender hielt sie in dieser Zeit fest, wie das Leben voranging, aber auch das Sterben.
Meistens waren es nur einzelne Worte,
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