Der Tod meiner Mutter
die sie notierte, »Schnee« etwa oder »Sonne« und am häufigsten »Schlafen«. Drei Worte,
noch ohne Angst, noch nichtverwackelt, mit gerader und genauer Hand aufgeschrieben. Drei Worte, die ich ein paar Monate nach ihrem Tod las, ich hatte
die Kalender endlich aus dem Karton geholt, den ich in die Kammer geräumt hatte und auf dem der Kindersitz balancierte, aus
dem meine Tochter schon wieder herausgewachsen war.
Der Schlaf gehörte nur ihr allein. Aber bei dem Wort »Schnee« tauchten Bilder von München auf, vom Englischen Garten mit dem
Monopteros, wie der Winter roch in der Stadt, nach gefrorenem Heu oder nahem Wald oder Autoabgasen, die zu grauen Eisklumpen
werden. Und die Sonne konnte ich selbst spüren, wenn sie »Sonne« schrieb, es war eine Sonne, die über uns beiden stand, die
Sonne meiner Kindheit, eine Sonne, die uns zusammenbrachte, selbst nach ihrem Tod, sie wartete immer so auf den Frühling,
kaum war der Schnee geschmolzen und die Sonne schien. Sie wartete wie auf ein Zeichen, sie hat dieses Zeichen sogar fotografiert,
die Krokusse im Englischen Garten, lila und neu, wie sie waren.
Die Zeit der Krokusse war für sie die Zeit der Veränderungen. Im März des Jahres 2005 hatte sie ihr Auto verkauft und vermietete
ihre Garage, »ich kann mir von dem Geld ein Taxi leisten, wenn ich einkaufen fahre oder ins Theater gehe«, sagte sie und schloss
damit wieder einen Teil ihres Lebens ab. Sie klagte über die Schmerzen bei ihrer Chemotherapie. Aber sonst schien es mir nicht,
als ob ich mir Sorgen machen müsste. Sie ging mittags am Viktualienmarkt essen und lud abends Freunde ein,für die sie kochte. Sie hatte eine Putzfrau, die ihr im Haushalt half. Sie pflanzte neue Blumen in ihrem Garten, und wenn
sie mehrere Tage Supervision hinter sich hatte, dann war sie zwar müde, aber sie war auch stolz, dass sie es wieder geschafft
hatte. »Wenn ich arbeite«, sagte sie, »habe ich viel mehr Energie, als wenn ich nicht arbeite. Ich bin immer wieder überrascht,
dass ich das acht oder zehn Stunden am Tag durchhalte.«
Am 26. April 2005 notierte sie: »dauernd geschlaucht«. Dann flog sie nach Italien zu meiner Hochzeit, sie war oft in ihrem
Zimmer, was ich nicht merkte, sie war aber auch oft dabei, dachte ich. Ich nahm nicht wahr, wie es ihr ging, ich kümmerte
mich nur um den kleinen Elektrowagen, der sie in Capri von der Fähre in die Kirche bringen sollte. Ich verstand nicht, was
ihr Brustkrebs mit ihren Fußschmerzen zu tun hatte. Auf dem Weg zum Fußballspiel am Tag nach der Hochzeit humpelte sie, als
habe sie jemand von hinten getreten.
Als sie aus Sorrento wieder zu Hause war, lag sie drei Tage mit einer Kolik im Bett. Nach der nächsten Supervision Anfang
Juni war sie »total müde«. Sie spürte, dass es enger wurde. »Einkäufe«, steht in ihrem Kalender oder »kl. Einkäufe« oder »TV«
oder »Lesen«. Am 15. Juni hatte sie einen »Helfer-Tag«.
Und am 5. Juli stürzte sie in der Dusche.
Ich war an diesem Tag in München. Wir saßen auf der Terrasse, es war ruhig im Hinterhof, die Sonne schimmerte grün durch die
Bäume, es war warm, und sie erzählte von dem Sturz, ich erzählte von meinem Beruf,sie war sehr interessiert, mehr als sonst, wie ich fand. Ich sagte, sie sollte sich auf jeden Fall bald eine Stange in der
Dusche anbringen lassen, damit sie nicht noch einmal stürzt. Wir waren ernst, aber nicht traurig. Ich fuhr bald darauf in
die Flitterwochen nach New York, sie organisierte ihr Leben neu.
Sie traf sich mit ihrer Nachbarin, die ihr bei den Einkäufen helfen würde. Sie suchte sich einen Zivildienstleistenden, für
das Abspülen und die Wäsche. Sie sprach mit ihren Freundinnen. Sie nahm das Angebot ihres Bruders Klaus an, der ihr monatlich
etwas Geld überweisen wollte. Sie fand eine neue Freundin, deren schnelle Art und praktische Intelligenz ihr gefielen und
die ihr Stärke gab, bis auch diese Freundschaft zerbrach, im Sommer 2006, als sich vieles so schnell veränderte.
Ich war wie zweigeteilt. Ein Teil von mir wusste, was da passierte, ein anderer Teil wollte es nicht wissen. Ich war oft genervt,
wenn ich mit ihr sprach, ich verstand nicht, warum sie so kompliziert war, warum sie mal gut gelaunt war und mal schlecht,
ich war ungeduldig am Telefon und froh, wenn sie aufgelegt hatte. Ich wollte mich auf mein Leben konzentrieren. Es war ein
Jahr der Veränderungen. Ich entfernte mich gerade von ihr.
Das Ungewisse war die
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