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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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Zeit, die vor uns lag. Anfang August war meine Mutter in Salzburg und hörte Anna Netrebko in »La Traviata«.
     Sie schaute sich die Thomas-Mann-Nacht im Fernsehen an. Sie wusch die Vorhänge und bügelte sie mithilfe einer Freundin. Am
     20. und 21. August notierte sie »Papst« und »Regen«.An den folgenden Tagen schrieb sie »Regen, Regen« und »Regen, Regen« in den Kalender. Am 24. August dann »2 × reißende Isar«,
     sie war durch ihr Viertel zur Wittelsbacher Brücke gelaufen, um auf die donnernde Wasserwalze zu schauen, zu der sich der
     Fluss auf dem Weg durch die Stadt aufbäumte, mit aller Macht und Wut der Berge; am 25. August notierte sie »Neuer Mac!« und
     am 29. August »Finger geschnitten«.
    So ging es weiter, die nächsten Wochen und Monate, eine zerbrechliche Normalität, ein verändertes Leben, die Ahnung von Abhängigkeit,
     die Erfahrung von Freundschaft. Ich hörte es mir an, wenn sie von sich erzählte, und war froh, dass ich im Moment nicht mehr
     tun musste.

    »Tut mir leid, ich kann nicht mehr«, sagte sie, und es schien, als ob sie Tränen in den Augen hatte. Dann versuchte sie aufzustehen,
     ich hielt sie am Arm, während ihr Bruder Klaus den Mantel holte. Ihre Knie waren angewinkelt, selbst wenn sie stand.
    Elfi holte den Rollstuhl, meine Mutter setzte sich hinein, sie drehte sich zu mir um und gab mir die kleine schwarze Plastiktasche.
     »Ich will euch gern einladen«, sagte sie, »bitte nimm dir das Geld einfach raus.«
    Wir waren in ihrem Lieblingslokal, in ihrem Viertel, ein paar Freunde und zwei ihrer Geschwister. Ich hatte extra angerufen,
     um zu sagen, dass meine Mutter keine Zwiebeln verträgt und auch keinen Knoblauch, wir waren sehr früh da gewesen, alle waren
     etwas vorsichtigund ruhig gewesen, das Gespräch hatte gestockt, meine Mutter hatte am Tischende gesessen und war guter Laune gewesen, wir
     hatten Prosecco getrunken und die Vorspeise hatte geschmeckt. Aber es dauerte, bis das Hauptgericht kam, und meine Mutter
     fing an, sich zur Küche umzudrehen, fing an, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen, fing an, mich fragend und vorwurfsvoll
     anzuschauen. Es war der Abend vor ihrem 70. Geburtstag.
    »Es geht nicht mehr.« Als Elfi sie aus dem Lokal geschoben hatte, waren wir eine Weile still. Dann sprachen wir darüber, was
     jeder dachte, was zu tun war, um ihr zu helfen.
    Am nächsten Abend waren wir wieder in dem Lokal, um ihren Geburtstag zu feiern, dieses Mal nur wir drei, meine Mutter, meine
     Frau und ich. Wir tranken Champagner, und noch vor der Vorspeise kam, wie verabredet, der Schauspieler Matthias Bundschuh,
     den meine Mutter so liebte, mit seiner etwas verschüchterten, übersensibilisierten Art, er schaute im Lokal herum, meine Mutter
     sagte noch: »Das ist doch der Bundschuh«, sie kannte ihn ja aus den Münchner Kammerspielen. Da stellte er sich zu uns und
     fragte, ob hier eine Hannelore Diez am Tisch sitze.
    »Ja«, sagte meine Mutter, »das bin ich.«
    »Können Sie sich denn ausweisen?«, fragte Bundschuh, »ich habe einen Brief für Sie, aber den kann ich Ihnen nur geben, wenn
     Sie sich ausweisen können.«
    Meine Mutter lachte und senkte dabei das Kinn zurBrust, sie griff nach der schwarzen Plastiktasche, die sie über die Lehne des Stuhls gehängt hatte, und suchte nach ihrem
     Personalausweis. Natürlich wusste sie, dass wir Bundschuh gebeten hatten, diesen Brief zu bringen. Aber es gehört zum Spiel,
     dass man daran glaubt; und es gehört zu einem guten Spiel, dass man irgendwann vergisst, dass es ein Spiel ist.
    Bundschuh las ihr den Brief vor, den ich geschrieben hatte, er sagte: »Ich würde gern mehr über dich erfahren. Ich würde gern
     wissen, was du dir wünscht, was dir fehlt, wie du durchs Leben gehst, was du siehst, wenn du einen Baum anschaust oder einen
     Mann oder im Spiegel dein eigenes Bild. Ich würde gern wissen, ob du es lieber magst, wenn es regnet oder wenn die Sonne scheint,
     ob du dir gern teure Kleider kaufst, ob du oft an deine Kindheit denkst, ob du wirklich politisch bist, was auch immer das
     ist.«
    Und als er gegangen war, blieb noch etwas von seiner würdevollen Heiterkeit bei uns und wir waren alle drei den Abend über
     guter Laune.
    Zwei Tage später waren wir hilflos und es gab nichts, was wir tun konnten. Meine Mutter war an diesem Abend schon auf einem
     anderen Weg, und wenn sie sich hilflos fühlte, dann zeigte sie es jedenfalls nicht. Sie wollte fröhlich sein, das merkte ich.
     »70«, sagte

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