Der Tod meiner Schwester
sonst ja auch getan.”
“Du weißt gar nicht, wovon du sprichst.” Mit Sorgfalt, fast schon zärtlich setzte Ethan das Mikroskop wieder in den Sand. “Woher weißt du denn, was mein Bruder normalerweise tut?”
“Ich weiß eine Menge”, behauptete ich.
“Und warum ist Ned so am Boden zerstört, wenn er es getan hat? Er sitzt herum und weint wegen deiner Schwester.”
“Nun, vielleicht weint er, weil er sie getötet hat und er –”
“Halt die Klappe!” Blitzartig war Ethan über mir und hielt meine Hände mit seinen dünnen Armen über meinem Kopf fest. Eines seiner Knie grub sich in meinen Bauch und ließ mich nach Luft schnappen. Ich sammelte all meine Kraft, um ihn von mir zu stoßen und zur Seite zu rollen, sodass ich über ihm war. Ich boxte ihn so fest ich konnte ins Gesicht. Er jaulte auf, und ich sah das Blut aus seiner Nase schießen. Es war mir egal. Ich schlug ihn noch einmal. Sein Kopf lag nur wenige Zentimeter vom Wasser entfernt, und ich hätte sein Gesicht leicht so drehen können, dass Mund und Nase von Wasser bedeckt wären. Dass ich einen solchen Gedanken überhaupt fassen konnte, brachte mich wieder zur Besinnung. Ich ließ ihn los und kam schluchzend auf die Beine. Fast blind vor Tränen und verwirrt von meinen widerstreitenden Gefühlen, rannte ich durch das hohe Gras zurück. Mein Herz krampfte sich zusammen, und meine Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass ich später Blut fand, wo sich meine Fingernägel in die Handflächen gegraben hatten. Ich wollte jemanden umbringen. Ich wusste nur nicht, wen.
Ich selbst rief die Polizei an. Meine Eltern und ich redeten nur mühsam miteinander, und ich konnte sie schwerlich bitten, es für mich zu tun. Ich erzählte Officer Davis von meinem Verdacht. Er hörte aufmerksam zu. Dann sagte er mir, dass George Lewis kein nachprüfbares Alibi hätte. George hatte der Polizei gesagt, dass er an der Seaside Heights Promenade auf einige Freunde gewartet hätte, die aber nicht aufgetaucht seien. Er hatte Kratzer im Gesicht und an den Armen gehabt, die er damit erklärte, dass er sich an jenem Abend am Strand mit einem weißen Jungen geprügelt hätte, den er nicht kannte. Die Polizei hatte jedoch keine Zeugen für den Kampf finden können. Beim Haus der Lewis fand man Georges nasse Hosen und – das Belastendste überhaupt – ein Handtuch, das Isabel gehörte.
“Aber
ich
habe das Handtuch mit auf die andere Seite des Kanals genommen und es dann versehentlich dort vergessen!”, schrie ich fast in das Telefon.
“Es war Blut darauf, Julie”, sagte Officer Davis. “Mr. Lewis behauptet, dass er das Handtuch nach der Prügelei benutzt habe. Da er und deine Schwester die gleiche Blutgruppe haben, wissen wir nicht, ob es sein oder ihr Blut ist, doch er war eindeutig in eine Auseinandersetzung verwickelt.”
“Die Stühle im Garten der Chapmans waren in jener Nacht leer”, sagte ich und wiederholte damit etwas, was ich ihm schon berichtet hatte.
“Wir werden die Chapmans deswegen noch einmal befragen”, versprach Officer Davis. “Ich weiß, dass du dir Sorgen machst und sicher sein möchtest, dass wir den richtigen Verdächtigen in Gewahrsam haben, und ich danke dir für den Anruf. Aber du lässt uns jetzt unsere Arbeit tun, ja?”
Als man Ned und Mr. Chapman noch einmal befragte, sagten sie aus, sie hätten in jener Nacht auf einer Decke in ihrem Garten gelegen, und darum hätte ich sie nicht gesehen, als ich zu ihrem Haus gelaufen sei. Ich glaube noch immer, dass ich sie dort gesehen hätte, und fand es zudem merkwürdig, dass sie
mich
nicht bemerkt hatten, obwohl ich nur ein kleines Stückchen hinter ihnen durch den Garten gelaufen war. Mit Sicherheit hätten sie mich hören müssen, als ich ins Boot stieg, doch niemand anderes schien sich an ihrer Geschichte zu stören.
Brunos Vater engagierte einen Anwalt – denselben, der ihn im letzten Jahr vor einer Strafe wegen Vergewaltigung bewahrt hatte. George wusste nicht einmal, wer sein Vater war, geschweige denn hatte er das Geld für einen Anwalt. Er wurde angeklagt und schließlich wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.
Ned wurde noch nicht einmal verdächtigt. Jeder hielt den Sohn des Vorsitzenden Richters des Obersten Gerichtshofs von New Jersey für unschuldig – außer mir.
40. KAPITEL
J ulie
1962
Innerhalb weniger Tage hatten wir unsere Habe zusammengepackt und den Bungalow zum letzten Mal verlassen. Dieser Tag setzte auch meinen detektivischen Ambitionen ein Ende.
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