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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Niedlich
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erklären, warum du gehen musst, wenn du dich doch vervielfältigen kannst.“
    „Weil es anstrengend ist.“ Er zuckte mit den Schultern und hob die Hand zum Gruß.
    Bevor er verschwand, unterbrach ich ihn. „Kannst du mir sagen, wann es so weit ist?“
    Tod drehte den Kescher zwischen den Fingern. „Ich werde dir noch Bescheid geben“, sagte er und verschwand.
    Als ich ebenfalls verschwand, ahnte ich nicht, dass ich kurz zuvor das letzte Mal mit meinem Vater gesprochen hatte. Tod hatte mich nicht angelogen. Mein Vater starb nicht an diesem Abend, und auch die Operation, bei der erneut versucht werden sollte, den Stent zu ersetzen, verlief erfolgreich. Allerdings hatte der zu lange währende Verschluss der Gallengänge dazu geführt, dass sich der Körper meines Vaters quasi selbst vergiftet hatte. Nach und nach fuhr er nun seine eigenen Lebenserhaltungssysteme, wenn man das denn so ausdrücken will, herunter. Mein Vater wachte nach der OP nicht mehr auf, und seine Atmung wurde immer mehr zu einem Schnappen nach Luft.
    Die Station hatte meiner Mutter Bescheid gegeben und sie wiederum mir. Gemeinsam fuhren wir ins Krankenhaus und besuchten ihn in dem Zimmer, in das man ihn von anderen Patienten getrennt zum Sterben verlegt hatte. Obwohl mir der Anblick vertraut war, erschrak ich doch, als ich ihn dort liegen sah. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen in ihren Höhlen nach oben verdreht. Auch ohne medizinische Ausbildung war klar, dass es zu Ende ging. Meine Mutter begann zu weinen, und ich drückte sie, um sie zu beruhigen, dabei war ich selbst aufgewühlt.
    Wir verbrachten gut eine Stunde am Bett und redeten mit meinem Vater, als wäre er bei Bewusstsein. Schließlich verabschiedeten wir uns, und ich nahm meine Mutter mit zu Anja und mir nach Hause, wo Anja uns beiden Trost spendete und dafür sorgte, dass wir etwas aßen.
    In der Nacht lag ich erst lange wach und war irgendwann endlich eingeschlafen, als mich ein Stechen in der Seite weckte. Tod stand neben dem Bett und hatte mich mit dem Kescher gepikt.
    „Es ist so weit“, sagte er rundheraus.
    Ich stand leise auf, um Anja nicht zu wecken. Dann sprangen Tod und ich in das Zimmer, in dem mein Vater lag.
    Eine der Nachtschwestern stand gerade neben dem Bett, um zu schauen, wie es ihm ging. Fast hätte ich vor Schreck geschrien, aber Tod schaute mich durchdringend an und hielt mich davon ab. Die Frau ging direkt an mir vorbei und schien mich gar nicht zu bemerken. Als sie endlich draußen war, fragte ich Tod, was das zu bedeuten hatte.
    „Du bist tot, mein Junge“, sagte er.
    „Was?“, platzte es aus mir heraus.
    „War nur ein Scherz. Die Leute sehen dich nicht, wenn du es nicht willst. Ist eine der Eigenschaften, die du mit dem Job bekommst.“
    „Mein Vater liegt im Sterben, und du machst Scherze?“
    Tods Grinsen verschwand urplötzlich. „Tut mir leid. Das war gedankenlos von mir.“
    Mein Vater schnappte nach Luft. Ich zuckte zusammen, so überraschend kam es.
    Ich ging um das Bett herum und rückte mir den Stuhl näher an das Krankenbett. Tod blieb auf der anderen Seite stehen und lehnte sich an die Wand. Fast mechanisch nahm ich die leblose Hand meines Vaters in die meinen und verspürte darin nichts als Kälte. Die Pause zwischen den Atemzügen war unerträglich.
    „Alles sieht genauso aus wie in meiner Vision“, sagte ich zu Tod.
    „Ganz genau so?“, fragte Tod.
    „Nun, in der Vision sah ich dich und mich nicht in diesem Raum, aber ansonsten … Das ist echt beunruhigend.“
    Mein Vater zuckte zusammen und schnappte erneut nach Luft, aber diesmal atmete er danach lange aus und blieb dann ruhig liegen. Und in diesem Moment wusste ich, dass es vorbei war.
    Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich stand auf und wollte fast wie im Reflex irgendetwas tun, um ihm zu helfen, aber Tod trat dichter ans Bett heran und sagte schlicht: „Martin.“
    Ich wusste, es hatte keinen Zweck. Ich ließ mich wieder auf den Stuhl fallen und beobachtete, wie ein schillernder Schmetterling aus dem Mund kroch und seine Flügel spreizte.
    Scheinbar ohne Anstrengung war das Geschöpf auf einmal in der Luft und schwirrte durch den Raum auf mich zu. Ich streckte meine Hand aus, und der Schmetterling ging darauf nieder. Es sah fast so aus, als würde er mich ansehen.
    „Mach’s gut, Papa“, sagte ich, als Thanatos den Kescher über das Bett hielt.
    Er forderte mich nicht auf, den Kescher zu nehmen, ich sollte einfach nur den Schmetterling hineinsetzen. Ich

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