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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Niedlich
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nicht etwa der Pförtner herausgekommen, nein, Andreas hatte zur Pförtnerloge gehen müssen, um sich dort eine Strafpredigt abzuholen, dass man in dringenden Fällen einen Notarztwagen rufen sollte. Als wir endlich durch die Einfahrt rollten, fluchte Andreas immer noch vor sich hin. Er half mir dabei, in die Notaufnahme zu humpeln, und verabschiedete sich dann.
    „Und ich will wissen, wie du das gemacht hast“, sagte er.
    Ich schaute ihn fragend an. „Wovon redest du?“
    „Na, wie du den Jungen gerettet hast, Alter.“
    „Ich bin rausgeschwommen und hab ihn zum Ufer gebracht. Da war doch nichts Besonderes bei.“
    „Alter, du bist doch nicht geschwommen.“
    „Was?“
    „Du bist übers Wasser gelaufen, Alter.“
    Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass meine Kleider, abgesehen von ein paar Wasserspritzern, vollkommen trocken geblieben waren.

Kapitel 25
    Ohne dass ich es selbst bemerkt hatte, war eine weitere von Tods Eigenschaften auf mich übergegangen. Die schiere Macht der Vorausahnungen hatte mich derartig abgelenkt, dass ich die Tatsache, dass ich über das Wasser gelaufen war, völlig ausgeblendet hatte. Langsam begann ich, mich in meiner Haut nicht mehr wohl zu fühlen. Was gab es noch, was von Tod auf mich abfärben konnte? Würde ich nach und nach wie er werden, bis ich schließlich selbst der Tod wäre? So oder ähnlich hatte er es mir ja schon vorausgesagt, aber ich war davon ausgegangen, dass dies erst nach meinem eigenen Tod geschehen würde. So interessant und praktisch das Springen von einem Ort zum nächsten war, die Visionen von den Todesmomenten anderer waren nicht als angenehm zu bezeichnen. Was wäre, wenn sich auch Tods Geschmack in Sachen Mode auf mich übertragen würde? Würde ich über kurz oder lang mittelalterliche Umhänge samt spitzer Kapuze tragen?
    Die Krankenschwester am Empfang der Notaufnahme drückte mir einen Zettel in die Hand, den ich ausfüllen sollte, und schickte mich damit ins Wartezimmer. Mein Einwand, kaum laufen zu können, wurde von ihr mit den Worten abgewiesen, ich sei ein kräftiger junger Mann, der wohl nicht gleich verbluten würde und daher wie alle anderen warten könne. Immerhin half sie mir, meine Tasche ins Wartezimmer zu bringen, wo ich mich dann auf die gelöcherten Sitze aus Stahl fallen ließ.
    Das Wartezimmer war so gut wie leer. An der gegenüberliegenden Wand saß ein Mann mit Halbglatze, der müde aufblickte, als ich hereingehumpelt kam. Ein Stück entfernt von ihm hatte eine dreiköpfige Familie Platz genommen. An den Wänden hingen abstrakte Bilder in dunklen Tönen, die ich eher beunruhigend fand. Keiner sprach ein Wort. Wartezimmer-Melancholie.
    Die Ereignisse des Tages gingen mir durch den Kopf. Eher verstohlen sah ich die Leute im Raum an und erwartete, erneut von einer Welle zukünftiger Tode überrollt zu werden, aber ich hatte Glück. Zumindest für den Moment schien ich vor den Visionen Ruhe zu haben und entspannte mich, so gut es ging.
    Nach fünf Minuten wurde die Familie in die Notaufnahme gerufen, wobei die Mutter zärtlich ihrer Tochter den Kopf streichelte. Ich sah ihnen hinterher, aber nachdem sie in der Tür verschwunden waren, schlug diese zu und versperrte mir die Sicht. Die Halbglatze von gegenüber starrte auf ihre Finger.
    Fünf Minuten später wurde eine hochschwangere Frau im Rollstuhl an der Notaufnahme vorbeigefahren, die offenbar in den Wehen lag. Hinter ihr lief ein Mann, vermutlich der werdende Vater, der sich mit allerlei Taschen abbuckelte und noch nervöser wirkte als seine Frau. Er warf einen kurzen Blick ins Wartezimmer, und ich hielt schnell den Daumen hoch, um ihm viel Glück zu wünschen. Er lächelte zurück, bevor er in Richtung Kreißsaal verschwand. Die Halbglatze hatte das kleine Zwischenspiel verfolgt und starrte mich an. Als ich hinübersah, waren seine Finger schon wieder interessanter geworden.
    Gelangweilt blickte ich aus dem Fenster des Wartezimmers auf den Flur. Im Haus schien wenig los zu sein. Zumindest liefen nur einige Ärzte und Krankenschwestern über den Gang, und keiner schien in Hektik zu verfallen. Die Ausnahme war ein kleines Mädchen, das nicht viel älter als sechs Jahre zu sein schien. Was die anderen Menschen an Energie vermissen ließen, schien sie im Überfluss zu haben. Sie sprang in ihrem bunt gemusterten Kleid quer über den Flur, drehte Pirouetten und summte eine Melodie von Mozart. Der Name des Stücks war mir nicht geläufig, aber mein Vater hatte eine Aufnahme

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