Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
geschehen würde, wurde von den meisten geflissentlich übersehen. Es wurde „genullt“, also musste das gefeiert werden, und zwar ordentlich.
In Berlin gab es wie immer eine riesige Feier am Brandenburger Tor, und an der Siegessäule, nur etwas weiter die Straße runter, spielte Mike Oldfield die gefühlt hundertste Version von „Tubular Bells“, die für diesen Abend sinnigerweise in „The Millenium Bell“ umbenannt wurde. Ich persönlich war der Meinung, dass wir irgendwo privat feiern sollten, weil ich keine Lust hatte, mich von den Menschenmassen tottrampeln zu lassen, aber Anja wollte unbedingt hin.
Generell bewog mich Anja dazu, Dinge zu tun, die ich vermutlich alleine nie in Erwägung gezogen hätte. Sie hatte ständig irgendwelche Ideen für Unternehmungen, wogegen ich ansonsten die Tage mit Medizinbüchern und Vor-dem-Fernseher-Einschlafen verbracht hätte. Manchmal war es auch andersherum, insofern ich noch auf der Couch las und sie an meiner Schulter beim Fernsehen einnickte. Ich trug sie dann ins Bett, was sie sehr mochte.
Es lief so gut zwischen uns, dass sowohl ihre als auch meine Eltern ab und an Andeutungen machten, ob in absehbarer Zeit eine Hochzeit anstünde. Der Ton dieser Andeutungen unterschied sich allerdings radikal. Bei meinen Eltern klang es nach „Oh, hoffentlich heiraten sie bald!“ und bei Anjas Eltern eher nach „Oh Gott, ihr wollt doch nicht etwa bald heiraten?“. Anja und ich taten das immer relativ schnell mit einem Lachen ab. Trotzdem konnte ich sehen, dass es Anja beschäftigte.
Tod ließ mich die ganze Zeit in Ruhe, aber in diesem Jahr fiel er mir zum ersten Mal im Fernsehen auf. Auf Aufnahmen der Explosion einer Feuerwerksfabrik in Enschede sah ich ihn im Hintergrund herumspazieren. Auch beim Absturz der Concorde in Paris kam er kurz ins Bild. Später im Jahr entging mir nicht die große Anzahl von Schmetterlingen, die in den Beiträgen zum Gletscherbahnunglück in Kaprun zu sehen waren.
Als Letzteres passierte, sah ich Tod wieder öfter, da mein praktisches Jahr in der Charité angefangen hatte. Mich hatte es allerdings nicht an den Hauptsitz in Berlin-Mitte verschlagen, sondern ans Benjamin-Franklin-Klinikum in Lichterfelde, einen gigantischen Betonklotz in der Landschaft. Ich war für die unfallchirurgische Station eingeteilt und hatte somit unter anderem auch in der Notaufnahme zu tun, wo ich hoffte, Tod am ehesten dazwischenfunken zu können. Ich legte Zugänge, erhob Anamnesen, nahm Blut ab und assistierte bei Operationen, wo ich auch schon mal eine Naht machen durfte. Somit lernte ich als Mediziner dort das Standardprogramm. Für mich persönlich kam leider noch die Erkenntnis hinzu, dass ich, nur weil ich den Tod eines Patienten sehen konnte, noch lange nicht dazu in der Lage war, genau zu begreifen, warum beziehungsweise woran er gerade starb. Mir ließ das keine Ruhe, und ich wollte es nicht akzeptieren.
Das Krankenhaus bot an vielen Tagen noch zusätzliche Veranstaltungen an, die wir PJler besuchen konnten. Diese waren freiwillig, aber ich nahm an allem teil, was sich mir bot. Es gab ein chirurgisches Colloquium, wo verschiedene Bereiche der Chirurgie dargestellt und diskutiert wurden. Außerdem gab es die sogenannte M&M-Konferenz, die Morbidity-and-Mortality-Konferenz. Dort wurden jeden Mittwochnachmittag die Operationen und Therapieformen besprochen und kritisiert, bei denen es zu Komplikationen gekommen war. Dann gab es noch den Journal Club, wo Assistenten eine interessante Arbeit aus einer Fachzeitschrift vorstellten. Und wir PJler hatten auch ab und an eine Fallvorstellung zu leisten, wo wir einen Patienten unserer jeweiligen Station, nun, vorstellten, um dann Krankheitsbild und Differenzialdiagnosen zu diskutieren.
Als Neuling hielt ich mich zunächst zurück und lernte, wie das Ganze genau ablief, aber nach ein paar Wochen war ich, wie mein zuständiger Stationsarzt es nannte, schon zu übereifrig. Bestimmte Fälle wollte ich genauer mit anderen Ärzten diskutieren, weil ich wusste, dass die Personen bald sterben würden, mir aber keinen Reim darauf machen konnte, warum. Bei anderen Patienten waren die Umstände eindeutig, weil z.B. ein Tumor schon viel zu weit fortgeschritten war. In den Fällen konnte ich nichts mehr tun, aber ich suchte nach einer Möglichkeit, wie ich solche Krankheiten früher erkennen könnte. Dummerweise hatten die Patienten einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass ihnen nicht mehr geholfen werden konnte. Sie gingen
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