Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
meist viel zu spät zum Arzt. Das war leider auch in meinem persönlichen Umfeld der Fall.
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit nahm ich am Schichtdienst in der Ersten Hilfe teil und, auch wenn ich freihatte, am nächsten Tag an den bereits erwähnten Sitzungen. Die zuständigen Ärzte lobten mein Engagement, aber rieten mir zur Zurückhaltung, damit ich mich nicht schon im praktischen Jahr kaputtmachte. Tatsächlich bewirkte ich aber bereits etwas. Weil ich in die Zukunft von Patienten schauen konnte, gelang es mir manchmal, in der Gegenwart kleine Dinge zu bemerken, die mir einen Vorwand lieferten, etwas völlig Unbeteiligtes zu behandeln, was den Tod des Patienten verursacht hätte. Zum Teil waren das so banale Sachen wie ein eingewachsener Zehennagel, über den ein Patient kein Wort verlor, weil er mit einer Kopfverletzung nach einer Schlägerei eingeliefert wurde. Ich berührte seinen entzündeten Fuß, dass es wie zufällig aussah, und brachte ihn dazu, vor Schmerz beinahe an die Decke zu springen. Er ließ schließlich zu, dass ich mir das ansah, und ich konnte den Zeh behandeln und sein frühzeitiges Ende abwenden. Die meisten Patienten bekamen gar nicht mit, dass ich ihr Leben rettete. Im Falle des entzündeten Zehs wurde ich sogar noch wegen meiner Ungeschicktheit beschimpft. Undank war buchstäblich der Lohn für mein Engagement.
Durch meine Schichtdienste sah ich Anja weniger. Sie war an diesen Tagen meistens schon im Bett, wenn ich nach Hause kam. Meine Eltern hatte ich an einem gewissen Punkt sogar schon Monate nicht mehr besucht, obwohl ich zumindest mit ihnen per Telefon sprach. Anja fuhr meistens allein zu ihren Eltern, was mir ganz recht war. Sie hatte das ganze Jahr mehr oder weniger stillschweigend hingenommen, dass wir uns voneinander entfernten, weil ich in meiner eigenen kleinen Welt gefangen war und sie zuließ, dass ich mein Studium in Ruhe beenden konnte. Das Dilemma, dass ihr befristeter Vertrag in diesem Sommer auslaufen würde, war mir gar nicht richtig klar.
Unser Glück war, dass wir nicht viele Kosten hatten. Ich bekam im Krankenhaus etwas zu essen, und daheim gaben wir auch nicht viel Geld dafür aus. Die Wohnung war immer noch spartanisch eingerichtet, aber damit kamen wir klar. Eine kleine Durststrecke konnten wir also überleben. Tatsächlich hatten wir, also im Grunde Anja allein, einiges Geld gespart. Ihre Idee war es, damit nach meinem PJ und den Prüfungen endlich mal einen gemeinsamen Urlaub zu machen, nicht zuletzt, damit wir wieder etwas Zeit miteinander verbringen konnten. Ich wollte das auch mehr als alles andere, aber mein Enthusiasmus hielt sich in Grenzen, weil ich während unseres Urlaubs niemanden im Krankenhaus vom Sterben abhalten könnte. Außerdem befürchtete ich, dass wir das Geld eventuell zur Überbrückung bräuchten, wenn sie nicht gleich einen Job bekommen sollte, aber Anja ließ sich nicht davon abbringen. Sie wollte wenigstens zwei Wochen an der Ostküste der USA verbringen, um etwas mehr Gespür für die Sprache zu bekommen, die sie immerhin unterrichtete. Ich schätze, sie war ein wenig sauer auf mich, weil ich nicht sofort einen Luftsprung machte und die Hacken zusammengeschlagen hatte, als sie den Urlaub plante. Allerdings begann ich mich nach einer Weile doch darauf zu freuen, denn etwas Abwechslung und Ruhe nach all den Jahren Stress hatte ich wirklich nötig.
Ich schloss mein Studium mit einer relativ guten Note ab. Sie war nicht großartig, aber doch gut genug, dass ich mir um meine Zukunft keine großen Sorgen mehr machen musste.
Kapitel 39
Meine Eltern brachten uns zum Flughafen, um uns eine gute Reise zu wünschen und mich, abgesehen von der Gelegenheit auf der kleinen Party, die Anja zum Bestehen meines Studiums gegeben hatte, mal wiederzusehen. Mein Vater half beim Tragen der Taschen und beschwerte sich gleich, ob wir zwei Wochen oder drei Jahre fahren würden.
„Ich wusste gar nicht, dass ihr umziehen wollt“, sagte er.
„So viele Taschen sind es auch wieder nicht.“
„Aber was ist da drin, Steine?“
„Weißt du, wir hätten auch ein Taxi nehmen können“, sagte ich leicht genervt.
Ich bemerkte, dass mein Vater sich ab und an den Oberbauch rieb, während wir am Check-in-Schalter warteten.
„Was ist mit dir? Hast du wieder Schmerzen?“
„Ach, halb so wild“, erwiderte er. „Ich glaube, das Essen gestern war zu fett.“
„Versprichst du mir was?“
„Macht er doch eh nicht“, ging meine Mutter dazwischen.
„Was
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