Der Tod Verhandelt Nicht
musterte mich verstohlen, ohne etwas zu sagen. Noch immer hingen dicke, glitzernde Tränen in ihren Augen, die vor Wut nur so funkelten. Vor Wut, Liebe und Angst. Aus ihren noch feuchten honigblonden Haaren stieg mir ein leichter Kokosduft in die Nase. Flüchtig und zufällig wie der Hauch von Ironie, der eben noch über ihr Gesicht gehuscht war. Entzückendes, sanftes Oval einer Jugendlichen. Einer jungen Frau. Denn genau das war meine Tochter inzwischen: fast eine Frau. Eine Frau, die der Meinung war, dass ihr Vater nicht genug um sie gekämpft und sie vernachlässigt hatte, weil er andere Dinge im Kopf gehabt hatte. Ihr zu sagen, dass ich es nur getan hatte, um sie zu schonen, weil der Krieg zwischen Clara und mir ihr das Herz zerrissen hätte, war sinnlos. Sie würde mir nicht glauben.
»Ich werde versuchen, sie davon zu überzeugen. Aber ich will die ganze Wahrheit wissen. Also: Was stellst du gerade für komische Sachen an?«
»Ich habe meinen Freund verlassen. Er war langweilig, ein Stubenhocker, der mich total genervt hat. Genau wie Giovanni. Ansonsten läuft alles bestens. Und du? Was machst du eigentlich auf Sardinien?«
»Ich suche einen jungen Mann«, sagte ich und erzählte ihr kurz die näheren Umstände des Falles.
»Verschwunden? Ist er umgebracht worden?«
»Das glaube ich nicht. Er ist drogenabhängig, daist es wahrscheinlicher, dass er sich früher oder später selbst das Leben nimmt.«
»Und warum soll der Kerl ausgerechnet hier sein?«
Wir waren auf dem besten Wege, jeden Moment ein Minenfeld zu betreten. Intuitive Vorsicht und gesunder Menschenverstand sagten mir, dass ich Aglaja aus dieser Geschichte heraushalten musste. Daher zuckte ich nur mit den Schultern und gab ihr zu verstehen, dass es keine weitere Bedeutung hatte. Aber das Mädchen war helle; so schnell gab es sich nicht zufrieden.
»Ich wette, der sucht hier die Komplizen seines Vaters.«
»Das glaub ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass er Genua nie verlassen hat.«
»Aber hier leben doch die anderen Räuber, die einfach so aus der Sache herausgekommen sind.«
»Tja«, murmelte ich unbestimmt.
»Bist du hergekommen, um sie zu überführen?«
»Nein, ich werde nur dafür bezahlt, den Jungen aufzustöbern.«
»Ich könnte wetten, dass der Mann von dieser blöden Kuh einer der Räuber ist.«
Das war zu viel. Ich packte sie fest am Arm.
»Jetzt hör mir mal gut zu, Aglaja«, sagte ich, »vergiss diese Frau und das, was ich dir gerade gesagt habe. Diese Geschichte. Im Dorf wird viel geredet, und bestimmte Themen anzuschneiden, ist ziemlich gefährlich. Und ich will dich unter keinen Umständen gefährden. Denk an deine Mutter …«
»Könnte es denn Tote geben? Stimmt es, dass du eine Pistole hast?«
»Ich habe einen Waffenschein und auch eine Pistole. In meinem Beruf ist das nötig …«
»Hast du sie schon mal benutzt? Hast du schon mal jemanden umgebracht?«
»Leider ja. Ein paar Mal musste ich schießen, sonst wäre ich getötet worden.«
Aglaja verstummte für einen Moment und lauschte in die Stille, in der meine Worte nachhallten. Dann pfiff sie nach dem kleinen Hund, der sich in der Zwischenzeit unterm Tisch zusammengerollt hatte, um ihn am Hals zu kraulen. Sofort begann er wieder mit dem Schwanz zu wedeln. Ohne mich anzusehen, warf sie mir dann ihre nächste Frage vor die Füße.
»Pa, was bedeutet eigentlich
borderline
?«
»Borderline?«
, fragte ich, verwundert über den plötzlichen Themenwechsel. »Ich glaube, das ist eine Persönlichkeitsstörung. Wieso?«
Sie wich beharrlich meinem Blick aus und nahm einen langen Zug aus ihrer Bierflasche.
»Mama sagt, dass du am Rande der Gesellschaft lebst und im Leben immer das Schicksal herausgefordert hast. Ich glaube, sie meint damit, dass du ein bisschen verrückt bist, aber sie sagt nicht verrückt, sondern …«
Ihr Zögern zwang mich förmlich dazu, den Satz zu beenden: »…
borderline
.«
»Hm«, murmelte Aglaja verlegen, aber offensichtlich auch ziemlich erleichtert.
»Wenn das alles ist – das bin ich gewohnt«, erwiderte ich achselzuckend. »Du weißt sicher, dass ich nach der Trennung von deiner Mutter mit einer Psychologin zusammen war. Da waren solche Beurteilungen an derTagesordnung. Das Netteste, was sie mir je gesagt hat, war, dass ich ein Gefühlsanalphabet sei.«
»Du warst mit der Frau schon
vor
der Trennung von Mama zusammen. Aber egal, die Psychologin lag jedenfalls falsch.«
»Wie willst du das wissen?«
»Wenn du ein
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