Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
Wohneinheit vordringen konnten. Der 12. Münchner Distrikt hatte nie zuvor etwas Vergleichbares erlebt. Tausende Männer und Frauen drängten sich auf der Straße und in den umliegenden Wohnblocks. Wie Ameisen um eine Zuckerschale hatten sie nur ein einziges Ziel. Die Menge der Toten und Verletzten war noch nicht überschaubar. Selbst die geballte Drohgebärde der 23. Militärstaffel hatte keinen Erfolg. Die Menschen bewegten sich wie in Trance und waren auf keinerlei Weise ansprechbar. Auf ebenso unerklärliche Weise hielt die Menge plötzlich inne und zerstreute sich kurz darauf ebenso rasch, wie sie zusammengekommen war.
Die protokollarische Aufnahme des Vorfalls durch die S-Beauftragten hielt ein nie dagewesenes Bild der Zerstörung fest. Der gesamte Eingangsbereich, das Treppenhaus, sämtliche Türen und Fenster waren völlig zerstört, ebenso die Nachbarwohnungen samt ihrem Mobiliar. Die spätere Befragung Einzelner ergab keinen Sinn. Bei allen war nur von einem unerklärlichen Bedürfnis zu hören, in die kleine Zweizimmerwohnung zu gelangen.
Ein völliges Rätsel stellten die wenigen Überreste in der Wohnung dar. Neben Knochen-, Holz- und Metallsplittern befanden sich auch Teile, die man uralten Technikgeräten zuordnete. Die letzte Hoffnung der Spezialisten war, dass die genauere Untersuchung der Reste eines völlig zerstörten Chips aus der aktuellen Orwell 3000-Reihe, der auf den Bewohner der Wohnung registriert war, vielleicht mehr über die Hintergründe aussagen würde.
Anja Feldmann Kinder des Todes
Als Tobias die Tür öffnete, fühlte er sich gleich noch miserabler. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass die Ankunft seiner Freunde ihn etwas aufrichten würde. Jetzt konnte er in Julias Gesicht gnadenlos ablesen, wie sein Anblick sie entsetzte, und auch Matteo hatte seine verspiegelte Sonnenbrille nicht schnell genug abnehmen können, als dass Tobias nicht noch einen raschen Blick auf das eigene fahle Gesicht hätte werfen können. Es war grau, kalt und steril wie die Betonwand seines modernen Eigenheims. Hier und da klebte ihm ein einzelnes seiner dünnen kinnlangen Haare am bleichen Gesicht. Wortlos trat er zur Seite, um die beiden einzulassen. Das Innere des Hauses umfing sie mit einer lähmenden Schwärze, die sie erschaudern ließ. »Hannes ist unterwegs, er musste noch dringend in die Redaktion. Wichtige Korrekturen.« Julia war sich nicht sicher, ob ihre Information zu Tobias durchgedrungen war, jedenfalls nickte er. Hannes war sein bester Freund, schon seit der Kindheit. Natürlich würde er ihn nicht im Stich lassen, ausgerechnet heute. Matteo und Julia nickten den anderen Gästen im Wohnzimmer verhalten zu. Vereinzelt, versteinert kam ihr Gruß zurück. Maren, Tobias Frau, saß im ledernen Designersessel wie in einem Schraubstock, umringt von drei besorgten Verwandten, die sie aus ihrer Lethargie zu befreien versuchten. Julia versuchte sich die Gänsehaut von den Armen zu streichen, die sie seit einer Woche wie ein feines Netz überzog. Schließlich hatte man noch immer gehofft, dass Emma wieder auftauchen würde, verlaufen, in den Brunnen gefallen, irgendetwas, was einer Fünfjährigen eben so zustoßen konnte. Doch dann war sie tot. Erdrosselt in einem Kletternetz im Kletterpark.
Ein neuer Gast betrat das Wohnzimmer. Bestimmt niemand aus dem engeren Freundeskreis, viel zu spießig, aber nicht schick genug. Julia war es unangenehm, dass er sich ausgerechnet neben sie stellte. Hilfesuchend schaute sie sich nach Matteo um, der entgegen seiner sonst so coolen Art völlig kleinlaut im Wohnzimmer herumgeisterte und der Verwandtschaft sein stilles Beileid ausdrückte. Sein heftiges Humpeln versetzte Julia dabei einen erneuten Stich. Ein Unfall aus Kindertagen, manchmal merkte man es fast gar nicht. Heute war es schlimm. Matteo ging Emmas Tod besonders nahe, er liebte Kinder über alles. Leider hatte ihm das Schicksal noch keine eigenen beschert. Seine italienische Machomanier war auch nicht gerade eine große Hilfe für ihn, eine nette Frau kennenzulernen.
»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, fragte der Mann neben Julia, der offenbar von der Polizei war. Sie fühlte sich überfordert und fauchte: »Können Sie nicht bis nach der Beerdigung warten?«
»Aber sie wurde schon abgeholt.« Die Stimme der neuen Erzieherin hatte Julia vom ersten Tag an nicht gemocht, aber jetzt rotierte sie wie eine schrille Klingel in ihrem Hirn. Sie schickte ein Stoßgebet nach oben, dass die
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