Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
der für sie schon lange Jegliches an Realität verloren hatte. Fast 30 Jahre hatte sie es geschafft, das grauenhafte Erlebnis zu verdrängen, und jetzt war alles wieder so greifbar, als wäre nicht eine Minute vergangen.
Fünf Kinder spielen in einem Baumhaus, ihrem geheimem Clubhaus, in das natürlich nur Clubmitgliedern Einlass gewährt wird. Eigentlich gehören sechs Kinder zu ihrem Club, fünf Jungen und ein Mädchen. Sie ist das einzige Mädchen, worauf sie ungeheuer stolz ist. Bernd kann heute nicht kommen. Er ist an Kinderlähmung erkrankt. So müssen sie eben heute zu fünft Geheimrat halten. Draußen schüttet es wie aus Kübeln, drinnen ist es dann immer besonders gemütlich. Sie trinken Limonade und lachen sich über jeden Quatsch kaputt, als sie von unten plötzlich ein leises Rufen hören. Widerwillig öffnen sie die Luke und sehen Lena dastehen, Bernds kleine Schwester, gerade mal fünf Jahre alt. Das Wasser läuft ihr in Strömen über das Gesicht, das nach oben gerichtet ist und voller Hoffnung. »Ich will auch hochkommen!« Die Großen schauen sich an, entrüstet, belustigt. Sie sind sich einig, das ist ein Geheimclub, hier werden große Dinge entschieden, nicht für fremde Ohren bestimmt. »Hau ab, du Zwerg. Du bist zu klein.«
»Du schaffst es ja nicht einmal, am Seil hochzuklettern.«
»Außerdem bist du kein Mitglied bei uns.«
Dann brechen sie in schallendes Gelächter aus, gedankenlos, Kinder eben. Luke zu mit lautem Krachen, Riegel vor. Wolkenbruch und Sturm bleiben ausgeschlossen, Lena auch. Vergessen, ausgeblendet. Sie machen weiter wie vorher, bis Julia auf einmal etwas Sonderbares hört. Ein Schrei? Blödsinn, das ist doch nur der Wind. Einige Minuten später vernehmen sie das Geräusch erneut, diesmal alle. Kein Zweifel, ein markerschütternder Schrei, es geht alles sehr schnell. Sie lassen die Luke herunter. Wo ist das Seil? Der Sturm muss es gelöst haben. Sie entdecken Lena im Kletternetz, das seitlich vom Baumhaus angebracht ist, das noch recht weit in die Höhe führt, zu einem sehr stabilen Ast der großen Kastanie, und etwa einen Meter unter dem Haus aufhört. Das kleine Mädchen hat das Seil noch um die eine Hand gewickelt, die andere ans Netz geklammert. Die Kinder erkennen deutlich die Panik in Lenas Augen. Sie schreit und windet sich. In ihrer Angst herunterzufallen, steckt sie den Kopf durch eine der engen Maschen des Netzes. Die Kinder rufen ihr zu, sie möchte ruhig bleiben, doch sie wird immer hektischer, verstrickt sich mehr und mehr in den Seilen, ringt bald nach Luft. Toby schafft es irgendwie, vom Haus auf das Kletternetz zu gelangen, versucht, das Mädchen aus seinen Fesseln zu befreien, doch wie verhext zieht sich die Konstruktion noch fester zusammen. Dafür weiß sich der Geheimbund keinen Rat, der Geheimbund ist vollkommen nutzlos in solchen Notlagen. Viel zu spät entschließt sich der tapfere Matteo, die drei Meter bis zum Boden zu springen. Er ignoriert den brennenden Schmerz in seinem rechten Bein. Er rennt um sein Leben und um das von Lena, bis zum Haus ihrer Eltern, das am nächsten liegt. Mit Leiter und Schneidgeräten erreichen sie kaum später den Unglücksort. Niemand kann Lena jetzt noch retten, nicht der Geheimbund, nicht ihre Eltern und auch nicht der Notarzt, der in einer Viertelstunde eintreffen wird.
»Diesmal werde ich nicht zögern.«, hatte Matteo zu ihr nur gesagt, als er endlich an sein Handy ging. Julia hatte nicht länger gewartet und Kommissar Wegener ihren schrecklichen Verdacht mitgeteilt. Sie hatte Angst um Max. Matteo wusste, wo er war. Wegener machte ihr auf nüchterne Art klar, dass ihrem Sohn nichts geschehen würde, solange man Karla noch nicht gefunden hatte. Innerhalb von zwanzig Minuten hatte er das psychologische Gutachten von Matteos damaligem Arzt per Fax vorliegen, das besagte, dass der Neunjährige unter quälenden Schuldgefühlen gelitten hatte. Lange Zeit hatte er sich Lenas Tod nicht verzeihen können. Seine Selbstvorwürfe, nicht früher Hilfe geholt zu haben, hatten ihn in tiefe Depressionen gestürzt. Eine viel zu hohe Bürde für einen Jungen in dem Alter.
»Dass es so schlimm um ihn stand, war mir gar nicht so bewusst. Wir standen damals alle unter Schock.« Julia schämte sich über die eigene Unsensibilität. »Aber dass Matteo zu so etwas fähig ist …, er ist doch verrückt nach Kindern …« Ihr flossen die Tränen über die Wangen. »Ich meine, wir haben uns alle Vorwürfe gemacht, und nicht nur wir
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