Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
suchte nach einem Forum, in dem es nicht um das Töten von Mäusen oder Ameisen ging. Sie fand mehrere und beobachtete sie eine Zeit lang, ein paar Tage, als Gast.
Dann, eines Abends, loggte sie sich unter falschem Namen ein und chattete mit. Ein paar Tage später lernte sie einen Neuzugang kennen, Carl. Einen Mann, wie er schrieb, »um die 40 und gut aussehend«. Bald entspann sich eine Freundschaft zwischen ihnen. Sie verstanden sich gut.
Wochenlang chatteten sie jeden Abend miteinander, und auch wenn sie sich in einem Forum befanden, in dem es um das Töten ging, sprachen sie nie darüber. Sie erzählten sich auch keine persönlichen Dinge, nannten keine Orte, keine Namen. Sie sprachen über Stimmungen und Worte, über Träume und Ängste. Und sie erzählte Carl von ihrer kleinen Affäre mit dem ängstlichen Buchhalter. Der verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte. Dessen Frau immer müde war. Eine Liaison auf Zeit. Ein kleiner harmloser Austausch von Körperflüssigkeiten. Carl war amüsiert gewesen.
Sie gewöhnte sich an Carl. So sehr, dass sie ihn tagsüber vermisste, an ihn dachte und den Abend kaum abwarten konnte. Sie fingen an, sich E-Mails zu schreiben. Bald machte sie sich Gedanken über sein Äußeres: Wie er wohl war, in der Realität? Wie seine Stimme wohl klang, seine Augen aussahen, seine Haare? Sie hatte ein Bild von ihm im Kopf, aber wie weit war es entfernt von der Wirklichkeit? Vielleicht könnten sie gemeinsam ein neues Leben beginnen. Es kribbelte in ihrem Bauch, wenn sie an ihn dachte. Vielleicht könnte sie sich in ihn verlieben? Hatte sie sich nicht schon ein wenig in den Fremden verliebt?
Solange Micha aber da war, würde sie keinen neuen Mann treffen können. Sie konnte ja nicht weg, abends oder nachts, oder am Wochenende, um ihn einmal zu sehen. Sie wusste auch gar nicht, wo Carl lebte. Sehr wahrscheinlich hatte er sein Zuhause in einer anderen Stadt, womöglich sogar in einem anderen Land.
Sie entsann sich ihrer alten Idee, die sie ja überhaupt erst dazu gebracht hatte, ins Internet zu gehen. Fast ein Jahr war es nun her, dass der Unfall geschehen war. Fast ein Jahr schon war sie an dieses Haus gefesselt mit diesem Mann im Rollstuhl. Sie musste ihn loswerden. Sie war zu jung, um solch ein einsames Leben zu leben. Und ihre Schuld musste irgendwann einmal gesühnt sein. Doch wenn sie Micha in ein Heim gab, wäre er immer noch da. Sie wusste, dass sie ihn dann nicht würde vergessen können. Dass sie immer an ihn denken und sich immer schuldig fühlen würde. Micha musste vollständig verschwinden. Sie kaufte einen Hammer. Sie hatte gelesen, dass es eine gute Methode war, jemanden zu erschlagen. Das Gehirn beschleunigte sich, während der Schädel sich, relativ gesehen, weniger bewegte. Schnell war alles vorüber.
Sie sann den Jahrestag des Unfalls als Michas letzten Tag aus. Schon bald würde es so weit sein. Schnell rückte der Tag näher.
Am Abend vor dem Jahrestag war sie aufgeregt. Beim abendlichen Chat schien Carl das zu spüren. Er fragte, ob sie sich über irgendetwas Sorgen mache. Ob irgendetwas passiert sei.
Es sei nichts zwischen ihnen, wehrte sie ab.
Ich mache mir Sorgen um Dich, schrieb Carl. Ernsthafte Sorgen.
Es war offensichtlich, dass sie ihm mehr erzählen musste, wenn sie sein Vertrauen nicht verlieren wollte.
Und so gab sie sich einen Ruck und erzählte ihm von dem Unfall und von ihrem Mann im Rollstuhl. Und von dem Hammer in ihrem Kleiderschrank. Und von dem kommenden Tag, an dem sich das schreckliche Ereignis jährte.
Carl antwortete ruhig. Er hörte zu. Er war mitfühlend.
Sie fühlte sich ihm nahe. Sie wünschte, er könnte bei ihr sein und sie in den Arm nehmen.
Sie schlief schlecht in dieser Nacht und konnte sich bei der Arbeit nicht konzentrieren. Angestrengt fuhr sie mit Micha eine Runde spazieren, dann aßen sie etwas, sie wusch ihn und brachte ihn ins Bett. Sie konnte ihn nicht anschauen. Sie sprach nicht. Sie schaute durchs Fenster nach draußen über die Straße und dachte, am nächsten Tag würde sie ein freier Mensch sein.
Wie gewohnt, traf sie sich am Abend mit Carl im Internet.
Meinst Du das ernst von gestern?, fragte er ohne Begrüßung.
Ja, tippte sie.
Eine Weile antwortete er nicht. Der Cursor blinkte minutenlang.
Trägst Du heute wieder diesen grünen Pullover?, fragte er.
Woher weißt Du das?, fragte sie zurück.
Ein Gefühl, schrieb er. An so einem wichtigen Tag. Ist schließlich Deine Farbe, nicht?
Sie spürte ein wenig
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