Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
bringen. Stundenlang saß er dort und sah fern. Ganze Nächte glotzte er stumm in das flimmernde Rechteck. Manchmal drückte er nachts den Knopf an seinem Bett, den sie hatte installieren lassen, nachdem er einmal aus dem Bett gefallen war und bis zum nächsten Morgen dort gelegen hatte. Dann krakelte er etwas auf ein Stück Papier. »Wasser« oder »Pisse« stand dann da.
Sie schlief im ersten Stock, ihrem ehemaligen gemeinsamen Schlafzimmer. Kranke brauchen Ruhe, hatte sie gedacht und ihn im Erdgeschoss ihres Hauses einquartiert, im früheren Kaminzimmer. Der Kamin wurde sowieso nicht mehr entzündet. Allein die Vorstellung von einem gemütlichen Abend zu zweit war grotesk.
An diesem Spätsommerabend hatte sie, nachdem sie Micha ins Bett gebracht hatte, es sich nicht wie sonst mit einem Glas trockenem Rotwein und leiser Musik auf der Wohnzimmercouch mit einem Roman gemütlich gemacht. Sie war in den ersten Stock des Hauses gestiegen und hatte sich an ihren Computer gesetzt. In ihrem kleinen Büro, das früher einmal Michas kleines Büro gewesen war. Sie hatte ein wenig im Internet gesurft. Und dann bei Google »Kill« eingegeben. Einfach so. Wenig später fügte sie ein »how to« hinzu. Sie nahm an, dass, wenn sie »wie töte ich« geschrieben hätte, die Polizei wenige Minuten später mit Blaulicht vor ihrer Haustüre gestanden und sie verhaftet hätte, allein wegen ihrer Gedanken.
Dabei war die Situation einfach unerträglich geworden. Sie lebte in einem Gefängnis, das ihr furchtbarer erschien als das reale. Dort gab es immerhin eine Aussicht darauf, dass sich die Lage irgendwann einmal bessern könnte. Lebenslänglich hieß schließlich nicht: das ganze Leben. Hier aber war sie gefangen in einem sich träge wiederholenden Alltag ohne Aussicht auf eine positive Entwicklung. Allein mit einem stummen vorwurfsvollen Mann. Micha war 42 Jahre alt. Er konnte noch 70 werden oder sogar 80. Und sie war an ihn gefesselt durch ihre Schuld.
Sie war in einem Forum gelandet an diesem Abend, in dem sich Menschen darüber austauschten, wie man Ungeziefer tötet und welche Maßnahmen man gegen Mäuse in der Wohnung treffen kann. Sie hatte das ganz spaßig gefunden, sich über Ameisen und Schnecken zu unterhalten, und war bis tief in der Nacht sitzen geblieben.
Der nächste Tag war ein besonders furchtbarer gewesen. Micha hatte sein Frühstück ausgekotzt, auf ihren Schoß. Sie hatte sich umziehen müssen und war zu spät bei einem wichtigen Meeting mit einem ihrer Kunden erschienen. Abends hatte sie länger im Büro gesessen, um das Fehlen vom Morgen wieder auszubügeln. In der Folge hatte Micha sie noch kühler als sonst empfangen. Stur hatte er sein Abendessen verweigert. Er war steif gewesen, als sie ihn gewaschen hatte, und schwer. Nur unter Aufwendung ihrer ganzen Kraft war es ihr möglich gewesen, ihn ins Bett zu hieven.
Später hatte sie an ihrem Schreibtisch gesessen und geheult. Eine Stunde lang saß sie einfach da und weinte. Vor Erschöpfung und Müdigkeit. Dann hatte sie ihren Computer angeschaltet, war ins Internet gegangen und hatte dem »how to kill« ein »person« hinzugefügt. Allein der Gedanke, Micha umzubringen, ihn vom Hals zu haben, war eine erleichternde Vorstellung gewesen, die sie beflügelt hatte.
Es war ihre Schuld, dass Micha im Rollstuhl saß. Sie hatte ja unbedingt die Abkürzung nehmen wollen. Die Landstraße zurück vom Meer, im Herbst. Auf der Autobahn stauten sich die Autos kilometerweit. Blöde Baustellen. Es konnte ja niemand ahnen, dass genau hinter dieser Abbiegung eine Erntemaschine stehen würde. Mitten auf der Straße. Natürlich hätte sie nach rechts ausweichen und in den eigenen sicheren Tod fahren können. Aber die Millisekunden der Entscheidung hatten ihre Reaktion das Lenkrad nach links drehen lassen. Und Micha der Erntemaschine ausgeliefert. Sie waren beide schwer verletzt gewesen und hatten wochenlang im Krankenhaus gelegen. Aber Micha würde seine Beine wohl nie wieder bewegen können. Er war vom Bauchnabel an gelähmt. Wegen ihr.
An diesem Abend war sie auf eine Website gestoßen, die tatsächlich Anleitungen dazu gab, wie man einen Menschen töten konnte. Detailliert wurde über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Tötungsarten diskutiert. Sie war erschrocken gewesen. Dass es so eine Website wirklich gab, verunsicherte sie ein wenig. Gab es noch mehr Menschen wie sie, die jemanden umbringen wollten? War es nicht nur ihr persönlicher kleiner Rachetraum? Sie
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