Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
Sekunde zu früh in den Briefschlitz gleiten ließen. Sekundenbruchteile später verschwamm Darnassus, die nacht-elfische Hauptstadt des bekannten Online-Rollenspiels World of Warcraft.
Connection to the server timed out.
Der Mann, der sich gegenwärtig als Julian Douglas ausgab, war schon unter vielen Namen gereist und hatte in noch mehr Hotels übernachtet. In den allermeisten war die vollmundig zugesicherte drahtlose Verbindung mit dem Internet ein sehr zweifelhaftes Vergnügen, und das »Prindsen« bildete da keine Ausnahme. Unwichtig. Er lehnte sich zurück, ließ den Blick im Raum schweifen. Der Mantel und der Hut lagen achtlos über der Stuhllehne, das Schulterhalfter mit der halbautomatischen Pistole lag sorgsam verborgen. Das Bett wies deutliche Gebrauchsspuren auf, der halbleere Koffer lehnte an der Wand. Der Platz auf dem Tisch, zwischen Hoteltelefon und Wasserkocher, war dem Notebook der Marke Alienware und zwei leeren Flaschen Cola light vorbehalten. Der Mann stand auf, streckte sich. Zeit, die Vorzüge zu genießen, die es mit sich brachte, der einzige Gast eines Luxus-Hotels zu sein. Seine Arbeit für heute war getan. Der digitale Brief, den er soeben versendet hatte, enthielt neben einem Namen auch ein mehrseitiges Dossier, Angewohnheiten der Person, die zu dem Namen passte. Die Beschreibung eines Ortes und eine Zeit. Die Zeit, den »Geist« zu entfesseln. Es war selbst für den Mann, der sich wohl zu den ›digital natives‹ zählte, immer wieder beeindruckend, wie viele Spuren und Informationen die Menschen im großen Netz des World Wide Web hinterließen. Aber egal, wie viele seiner Mitmenschen sich in dem Netz verfangen mochten, er selbst, fand der Mann, war die Spinne.
Dreiundzwanzigster August.
Jorgensen war bis auf die Haut durchnässt, lange bevor er zurück im Polizeipräsidium war. Kurz vor dem Gebäude begann sein Mobiltelefon penetrant zu klingeln. Er hatte das Gerät noch nicht ganz aus den Tiefen seiner Jackentasche befreit, als er gut und gern an die zwanzig Beamte aus dem Gebäude auf die Straße hasten sah, wenigstens die Hälfte von ihnen ihrerseits mit Mobiltelefonen am Ohr.
Verflucht.
Es hatte ein weiteres Opfer gegeben, es konnte nicht anders sein. Er war kaum eine Stunde durch die Stadt gewandert, und schon begann sein trotziger Vorsatz wieder zu bröckeln. Er kam in Sichtweite der Beamten und das Klingeln brach abrupt ab. Dafür verlangsamte einer der Ermittler seine Schritte und winkte Jorgensen hektisch zu sich heran. Das grimmige Gesicht seines Kollegen verriet dem erfahrenen Polizisten den Inhalt der Nachricht.
»Sven. Gut, dass du wieder da bist.« »Er hat wieder zugeschlagen, nicht?« Grimmiges Nicken. »Wo?« »Trekroner, die Bahnstation. Ein Schaffner in der Tür eines Zuges.« Jorgensen stampfte in hilfloser Wut auf, dass es weithin über das regennasse Pflaster spritzte.
Zwei Stunden zuvor.
Arne Omundsen wühlte im Müll. Er war durchfroren und durchnässt. Die abgerissene Windjacke und der dreckige Wollpullover, die er aus der Altkleidersammlung entwendet hatte, hielten der Kälte und Feuchtigkeit nicht im Geringsten stand. Aber der Meister hatte natürlich recht gehabt, nach all der Aufmerksamkeit, die er erreicht hatte, konnte er sich nicht mehr offen auf der Straße zeigen. Selbst wenn ihn niemand verdächtigte, nach sieben Morden auf der Straße, war jeder verdächtig, der sich auch nur raustraute, wenn er nicht unbedingt musste. Er fummelte noch einige Augenblicke im Mülleimer herum, nur um sicherzugehen, obwohl er längst gefunden hatte, was er suchte. Er warf ein, zwei hastige Blicke über die Schulter, dann zog er die rote Zigarettenpackung mit einer fließenden Bewegung hervor und ließ sie in der Manteltasche verschwinden. Ein weiterer hastiger Blick, und er machte sich auf den schnellsten Weg zum Bahnhof. Am Hauptgebäude vorbei, direkt in den Tunnel, der zu den Gleisen führte, die Treppe hinauf. Er löste einen Fahrschein, nur eine einzige Station weit. Wenige Minuten später tauschte er Nieselregen und Zugwind gegen die relative Wärme und Trockenheit einer Regionalbahn. Im Gang stehend, das regennasse Glas im Rücken und das monotone Rattern im Ohr, kamen die Erinnerungen wieder in ihm hoch, wie so oft in den letzten Tagen. Das erste Mal, da Arne das Bedürfnis verspürt hatte, einen Menschen zu töten, war der Tag seiner Einschulung gewesen. Und seit diesem Tag war das Verlangen nur gewachsen. Woher es ursprünglich gekommen war,
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