Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
wie seine Kontaktlinsen und der Reisepass in seiner Brusttasche. Er summte die Titelmelodie irgendeines Filmes, die ihm im Kopf herumspukte, immer wieder unterbrochen, irritiert von dem unregelmäßigen Takt, den die Regentropfen auf seinem breitkrempigen Hut spielten. Der Mann war sich bewusst, dass er in doppelter Hinsicht ein gewaltiges Risiko einging. Er hatte das Spiel auf eine neue Stufe gehoben, und keiner seiner Gegner hatte bisher mitziehen können. Zeit, das Tempo weiter zu erhöhen, wie es so schön hieß. Was war das Leben schon ohne Gefahr? Er bog rechts aus der Gasse aus, gelangte in die Flaniermeile der Stadt. Nur wenige hundert Kopfstein gepflasterte Meter weiter, und er stand vor dem Hotel. Prindsen. Das beste Hotel der Stadt. Na ja, zumindest das teuerste. Er blieb vor dem Torbogen zum Innenhof stehen, stellte den abgegriffenen Lederkoffer ab und fischte eine leuchtend rote Packung mit Mentholzigaretten aus der Manteltasche. Sie entglitt seinen klammen Fingern und landete, beinahe wie gezielt, in der vermutlich tiefsten Pfütze der gesamten Straße. Er stieß einen englischen Fluch aus, gerade mit genügend britischem Akzent, um authentisch zu wirken, fischte die Zigarettenschachtel mit spitzen Fingern aus der Pfütze und ließ sie in den nahen Mülleimer gleiten. Erst dann brachte er sich aus dem Regen in Sicherheit, überquerte den Innenhof, trat ein und schritt auf geradem Weg zur Rezeption. Die Hotellobby war ebenso verlassen wie das ganze Gebäude von außen gewirkt hatte, wenn auch, was der Mann mit Wohlwollen feststellte, von innen deutlich besser in Stand. Bei so wenigen Touristen, wie sie gegenwärtig in der Stadt weilten, mochte sogar die Freude der Empfangsdame echt sein. Er zog den frisch laminierten Pass aus der Innentasche, warf einen unauffälligen Blick darauf, dann schob er ihn mit einem freundlichen Lächeln der nicht minder routiniert lächelnden Dame am Empfang entgegen und stellte sich als Mr. Julian Douglas, aus Greenwich, London, vor.
Dreiundzwanzigster August.
Jorgensens Schritte wurden drängender. Ohne Eile trieb ihn doch die pure Frustration voran. Er liebte diese Stadt, hatte ihr dreißig Jahre im Polizeidienst gegeben, und er hatte immer mit heißem Herzen ermittelt. Was ihn aus den Büros der Roskilder Polizei hinaus in den Regen gezwungen hatte und ihn weitertrieb, war ein unerträgliches Gefühl der Machtlosigkeit. Er und die Kollegen aus dem ganzen Land, die man herangeschafft hatte, konferierten und konferierten. Sie hatten ein Dutzend Stadtkarten mit Markern gespickt und mit Fäden behängt, ganze Netze gespannt in dem Versuch, mögliche Winkel der Schüsse, Wege des Killers oder Fluchtrouten nachzuvollziehen. Und es hatte ihnen nichts eingebracht, nicht einen Hinweis. Es fühlte sich an, als jagten sie tatsächlich einen Geist. Der Schütze schien aus dem Nichts zu kommen, dorthin auch wieder zu verschwinden, und nicht wenige der Ermittler waren inzwischen insgeheim der Meinung, dass der Killer genauso ins Nichts verschwinden würde, sobald sein blutiges Werk vollendet war. Zu Jorgensens Linken plätscherte ein Springbrunnen, lang und schmal, vor den leeren Tischen eines der Restaurants, die Teil des erst kürzlich fertiggestellten Kaufhauses waren. Er hatte die Fußgängerzone verlassen, befand sich nun in dem Übergangsgebiet, wo aus Innenstadt allmählich Gewerbegebiet wurde. Die Drehtür surrte einsam und verlassen in der stumpfen Glasfront. Jorgensen konnte sich selbst erkennen. Einen vorzeitig ergrauten Mittfünfziger, mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht, in einer zerschlissenen Lederjacke, triefend vor Wasser. Das Bild eines geschlagenen Mannes. Jorgensen spuckte sich vor die Füße. Dreißig Jahre, und jetzt sollte er irgendeinem Psychopathen das Feld überlassen? Irgendwann würde auch der »Geist« einen Fehler machen, und Sven Jorgensen würde hier sein und den Kerl zur Strecke bringen. Er grunzte, zog die Schultern hoch und drehte sich auf dem Absatz um.
Einundzwanzigster August.
Der hochgewachsene Elf schritt mit fließenden Bewegungen über die hölzerne Brücke zur bewaldeten Insel. Sein Gang war ungehindert geschmeidig trotz des waldgrünen, mit Schädeln behängten Kettenhemdes und des schimmernden Bihänders auf seinem Rücken. Mit Grazie beugte er sich über den aus violettem Holz geschnitzten Briefkasten. Seine Feder kratzte in beeindruckender Geschwindigkeit über das Pergament, bevor seine gepanzerten Finger ein Blatt falteten und keine
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