Der Tod wartet
erstaunlicher Ort», verkündete er. «Wirklich erstaunlich. Ich bin froh, dass ich mir das nicht habe entgehen lassen. Mrs Boynton ist gewiss eine höchst bemerkenswerte Frau – ihren Mumm und ihre Entschlossenheit, hierher zu kommen, kann man nur bewundern –, aber ich muss gestehen, dass es nicht gerade einfach ist, mit ihr zu reisen. Ihre Gesundheit ist nicht die beste, was verständlicherweise wohl der Grund dafür ist, dass sie wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer nimmt, aber es scheint ihr einfach nicht in den Sinn zu kommen, dass ihre Familie gelegentlich mal gerne etwas ohne sie unternehmen würde. Sie ist es so gewöhnt, alle ständig um sich zu haben, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommt, dass – »
Mr Cope brach ab. Auf seinem freundlichen, sympathischen Gesicht zeichneten sich Verwirrung und Unbehagen ab.
«Wissen Sie», sagte er, «ich habe da etwas über Mrs Boynton erfahren, das mir ziemlich zu schaffen macht.»
Während Sarah wieder ihren eigenen Gedanken nachhing und Mr Copes Stimme nur angenehm wie das beruhigende Plätschern eines fernen Baches an ihr Ohr drang, reagierte Dr. Gérard sofort:
«Ach ja? Was denn?»
«Ich hörte es von einer Dame, mit der ich im Hotel in Tiberias ins Gespräch kam. Es ging dabei um ein Dienstmädchen, das bei Mrs Boynton angestellt war. Das Mädchen soll – sie war wohl – »
Mr Cope hielt inne, warf feinfühlig einen Blick auf Sarah und senkte die Stimme. «Sie hat ein Kind erwartet. Die alte Dame kam anscheinend dahinter, war aber offenbar sehr nett zu der jungen Frau. Aber ein paar Wochen, bevor das Kind geboren wurde, hat sie sie hinausgeworfen.»
Dr. Gérard zog die Augenbrauen hoch. «Sieh an», sagte er nachdenklich.
«Die Dame, die es mir erzählt hat, schien sich ihrer Sache absolut sicher zu sein. Ich weiß ja nicht, ob Sie mir zustimmen, aber ich finde ein solches Verhalten grausam und herzlos. Ich verstehe nicht, wie – »
Dr. Gérard unterbrach ihn.
«Sie sollten es aber versuchen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Mrs Boynton ihre diebische Freude daran hatte.»
Mr Cope sah ihn schockiert an.
«Nein, Sir», sagte er entschieden. «Das glaube ich einfach nicht. So etwas ist absolut unvorstellbar.»
Mit ruhiger Stimme zitierte Dr. Gérard:
« Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschieht unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser denn alle beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne g e schieht. »
Er brach ab und sagte:
«Sehen Sie, mein Lieber, ich beschäftige mich seit Jahren mit den seltsamen Dingen, die in der menschlichen Psyche vorgehen. Es nützt nichts, nur die schönere Seite des Lebens zu betrachten. Unter der Wohlanständigkeit und den Konventionen des täglichen Lebens liegt ein gewaltiges Reservoir seltsamer Dinge. Da gibt es beispielsweise so etwas wie die Lust, Grausamkeiten um ihrer selbst willen zu begehen. Aber wenn Sie auf sie stoßen, dann verbirgt sich dahinter noch etwas anderes. Das triebhafte und Mitleid erregende Verlangen nach Anerkennung. Wenn dieses Verlangen nicht befriedigt wird, wenn der betreffende Mensch aufgrund seiner Persönlichkeit unfähig ist, die Anerkennung zu finden, die er braucht, dann greift er zu anderen Mitteln – denn er muss Eindruck machen, er muss Erfolg haben –, was wiederum unzählige Perversionen zur Folge hat. Der Hang zur Grausamkeit lässt sich ebenso kultivieren wie jeder andere, er kann von einem Menschen Besitz ergreifen – »
Mr Cope hüstelte. «Ich glaube, dass Sie da doch etwas übertreiben, Dr. Gérard. Also die Luft hier oben ist wirklich herrlich…»
Er zog sich zurück. Gérard musste lächeln. Er warf einen Blick auf Sarah. Ihre Stirn war gerunzelt, und in ihrem Gesicht zeichnete sich jugendliche Entschlossenheit ab. Gérard fand, dass sie aussah wie eine junge Richterin, die im Begriff ist, das Urteil zu verkünden…
Er drehte sich um, da Miss Pierce auf unsicheren Beinen auf ihn zugetrippelt kam.
«Wir wollen wieder hinunter», plapperte sie aufgeregt. «Du meine Güte, das schaffe ich bestimmt nie und nimmer, aber der Führer sagt, dass wir eine andere Route nehmen, die viel leichter ist. Ich will es hoffen, denn ich konnte
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