Der Tod wartet
unvernünftig von der alten Dame, dort oben in der prallen Sonne zu sitzen?»
Alle blickten zu dem Felsvorsprung hinauf. Mrs Boynton saß wie am Vorabend reglos wie ein Buddha vor dem Eingang ihrer Höhle. Außer ihr war niemand zu sehen. Alle im Camp Beschäftigten schliefen. Nur etwas weiter weg war eine kleine Gruppe unterwegs, die talaufwärts ging.
«Die liebe Mama scheint ihnen ausnahmsweise zu erlauben, sich einmal allein zu vergnügen», sagte Dr. Gérard. «Oder ist das nur eine weitere Gemeinheit von ihr?»
«Genau das habe ich mich gerade auch gefragt», sagte Sarah.
«Dass wir immer gleich das Schlimmste annehmen müssen! Kommen Sie, schließen wir uns den Ausreißern an.»
Sie überließen Miss Pierce ihrer aufregenden Lektüre und machten sich auf den Weg. Kurz hinter der Biegung des Tales holten sie die Gruppe ein, die ziemlich langsam ging. Ausnahmsweise wirkten die Boyntons glücklich und unbekümmert.
Schon bald unterhielten sich alle – Lennox und Nadine, Carol und Raymond, der glücklich lächelnde Mr Cope sowie die beiden Neuankömmlinge, Sarah und Dr. Gérard – sehr lebhaft, und es wurde viel gelacht.
Übermütige Ausgelassenheit machte sich breit. Jeder hatte das Gefühl, dass ihnen ein seltenes Vergnügen vergönnt war, eine rare Freude, die es voll auszukosten galt. Sarah und Raymond sonderten sich nicht ab. Sarah ging vielmehr neben Carol und Lennox, während dicht hinter ihnen Dr. Gérard mit Raymond plauderte. Nadine und Jefferson Cope folgten in geringem Abstand.
Leider wurde die unbeschwerte Stimmung durch den Franzosen getrübt. Er war schon seit einiger Zeit ziemlich einsilbig gewesen. Nun blieb er plötzlich stehen.
«Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Aber ich fürchte, ich muss umkehren.»
Sarah musterte ihn. «Sind Sie krank?»
Er nickte. «Ja. Ich habe schon seit dem Mittagessen Fieberanfälle.»
Sarah betrachtete ihn eingehender. «Malaria?»
«Ja. Ich gehe zurück und nehme Chinin. Hoffentlich ist es kein allzu schlimmer Anfall. Ein Andenken an einen Aufenthalt im Kongo.»
«Soll ich mitkommen?», fragte Sarah.
«Aber nein! Ich habe alles Nötige in meiner Reiseapotheke. Wirklich zu ärgerlich! Lassen Sie sich durch mich bitte nicht stören.»
Er ging mit schnellen Schritten in Richtung des Camps davon.
Sarah sah ihm einen Moment unschlüssig nach, doch dann blickte sie in Raymonds Augen, lächelte ihn an, und der Franzose war vergessen.
Eine Zeit lang gingen alle sechs – Carol, Sarah, Lennox, Mr Cope, Nadine und Raymond – gemeinsam weiter.
Dann hatten Sarah und Raymond sich auf einmal abgesetzt. Sie gingen allein weiter, kletterten Felsen hinauf, folgten schmalen Vorsprüngen und ließen sich schließlich an einem schattigen Plätzchen nieder.
Geraume Zeit schwiegen beide, bis Raymond sagte:
«Wie heißen Sie eigentlich? Ich kenne nur Ihren Nachnamen. Aber wie heißen Sie mit Vornamen?»
«Sarah.»
«Sarah. Darf ich Sie Sarah nennen?»
«Natürlich.»
«Sarah, würden Sie mir ein bisschen etwas über sich erzählen?»
An die Felsen zurückgelehnt, begann sie zu erzählen, von ihrem Leben daheim in Yorkshire, von ihren Hunden und der Tante, die sie aufgezogen hatte.
Dann war Raymond an der Reihe, der, etwas zusammenhanglos, von seinem eigenen Leben berichtete.
Danach herrschte lange Schweigen. Wie zufällig fanden sich ihre Hände. So saßen sie da, wie Kinder, Hand in Hand, beide seltsam ruhig und zufrieden.
Die Sonne stand schon tief, als Raymond sich aufraffte.
«Ich muss jetzt gehen», sagte er. «Nein, bleiben Sie noch. Ich möchte allein zurückgehen. Ich habe noch etwas zu erledigen. Wenn es getan ist, wenn ich mir bewiesen habe, dass ich kein Feigling bin, dann – dann – werde ich mich nicht scheuen, zu Ihnen zu kommen und Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Denn dann werde ich Hilfe brauchen, wahrscheinlich werde ich mir sogar Geld von Ihnen leihen müssen.»
Sarah lächelte ihn an. «Ich bin froh, dass Sie so praktisch denken. Sie können auf mich zählen.»
«Aber zuerst muss ich noch etwas alleine erledigen.»
«Was denn?»
Raymond Boyntons jungenhaftes Gesicht wurde plötzlich hart, und er sagte: «Ich muss beweisen, dass ich Mumm habe. Jetzt oder nie.»
Dann machte er abrupt kehrt und ging.
Sarah lehnte sich wieder an den Felsen und sah der sich entfernenden Gestalt nach. Raymonds Worte hatten sie irgendwie beunruhigt. Er hatte so angespannt gewirkt – so schrecklich ernst und erregt. Einen Moment lang wünschte sie, sie
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