Der Tod wartet
schon als Kind nicht in die Tiefe schauen…»
Der Abstieg führte an einem Wasserfall entlang. Der Weg war zwar mit Geröll bedeckt, so dass man aufpassen musste, dass man sich nicht den Knöchel verstauchte, aber er bot immerhin keine Schwindel erregenden Ausblicke.
Kurz nach zwei Uhr nachmittags traf die Gruppe müde, aber in guter Stimmung und mit einem Bärenhunger im Camp ein.
An dem großen Tisch im Gemeinschaftszelt saß die Familie Boynton. Sie war gerade mit dem Mittagessen fertig.
Lady Westholme ließ sich dazu herab, einige huldvolle Worte an sie zu richten.
«Ein höchst interessanter Vormittag», sagte sie. «Petra ist in der Tat ein wunderschönes Fleckchen Erde.»
Carol, an die die Worte gerichtet zu sein schienen, warf rasch einen Blick auf ihre Mutter, murmelte: «O ja – ja, das ist es», und verstummte wieder.
Nachdem Lady Westholme dem Anstand somit Genüge getan hatte, konnte sie sich getrost ihrem Essen widmen.
Während die vier aßen, wurden die Pläne für den Nachmittag erörtert.
«Ich glaube, ich werde mich heute Nachmittag vor allen Dingen ausruhen», sagte Miss Pierce. «Man darf sich auf keinen Fall zu viel zumuten.»
«Ich werde losziehen und die Umgebung erkunden», sagte Sarah. «Und Sie, Dr. Gérard?»
«Ich werde Sie begleiten.»
Mrs Boynton ließ mit so lautem Geklapper ihren Löffel fallen, dass alle zusammenfuhren.
«Ich glaube», sagte Lady Westholme, «dass ich Ihrem Beispiel folgen werde, Miss Pierce. Ich werde ein halbes Stündchen lesen, mich dann hinlegen und mindestens eine Stunde schlafen. Danach vielleicht ein kleiner Spaziergang.»
Mühsam, und mit Lennox’ Hilfe, erhob sich die alte Mrs Boynton langsam von ihrem Stuhl. Sie blieb einen Moment stehen und sagte dann in überraschend liebenswürdigem Ton:
«Ihr solltet heute Nachmittag alle einen Spaziergang machen.»
Es war geradezu grotesk, die verblüfften Gesichter ihrer Angehörigen zu beobachten.
«Und was ist mit dir, Mutter?»
«Ich brauche euch nicht. Ich bin gerne allein, wenn ich lese. Jinny bleibt besser hier. Sie wird sich hinlegen und schlafen.»
«Aber ich bin nicht müde, Mutter! Ich möchte auch mitgehen!»
«Du bist müde. Und du hast Kopfschmerzen. Du musst auf deine Gesundheit achten. Geh und leg dich hin. Ich weiß schließlich, was gut für dich ist.»
«Ich – ich – »
Jinny hatte den Kopf in den Nacken geworfen und sah ihre Mutter rebellisch an. Dann schlug sie die Augen nieder, verlor den Mut…
«Dummes Kind», sagte Mrs Boynton. «Geh in dein Zelt!»
Sie humpelte schwerfällig hinaus, und die anderen folgten ihr.
«Du meine Güte», sagte Miss Pierce. «Was sind das nur für Leute! Und diese befremdliche Gesichtsfarbe – der Mutter, meine ich. Richtig violett. Wahrscheinlich das Herz. Die Hitze macht ihr bestimmt zu schaffen.»
Sarah dachte: «Sie gibt ihnen heute Nachmittag frei. Sie weiß, dass Raymond mit mir zusammen sein möchte. Warum tut sie das? Was steckt dahinter?»
Diese Frage beschäftigte sie auch nach dem Mittagessen noch, als sie in ihr Zelt ging und ein frisches Leinenkleid anzog. Aus ihren Gefühlen für Raymond war seit dem Vorabend leidenschaftliche und beschützende Zuneigung geworden. Das also war Liebe – diese Qualen, die man für einen anderen litt, dieser brennende Wunsch, dem geliebten Wesen um jeden Preis Kummer zu ersparen… Ja, sie liebte Raymond Boynton. Und es war genau umgekehrt wie bei dem heiligen Georg und dem Drachen. Hier war sie der Retter und Raymond das wehrlose Opfer.
Und Mrs Boynton war der Drache. Ein Drache, dessen plötzliche Liebenswürdigkeit für die misstrauische Sarah etwas entschieden Finsteres hatte.
Es war ungefähr Viertel nach drei, als Sarah wieder zum Gemeinschaftszelt hinunterschlenderte.
Lady Westholme saß auf einem Stuhl. Trotz der großen Hitze trug sie noch immer ihren strapazierfähigen Rock aus Harris-Tweed. Auf ihrem Schoß lag der Bericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dr. Gérard unterhielt sich mit Miss Pierce, die vor ihrem Zelt stand und ein Buch in der Hand hielt, das «Sehnsucht nach Liebe» hieß und auf dem Klappentext als ein spannender Roman über die Irrungen und Wirrungen einer großen Leidenschaft beschrieben wurde.
«Ich halte es nicht für klug, sich unmittelbar nach dem Mittagessen hinzulegen», erklärte Miss Pierce. «Wegen der Verdauung, wissen Sie. Und im Schatten des Zeltes ist es geradezu angenehm kühl. Du meine Güte, ist das nicht ziemlich
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