Der Tod wartet
«Ich liebe Sie nämlich… Ich liebe Sie seit dem Augenblick, als ich Sie im Zug das erste Mal sah. Das weiß ich jetzt. Und ich möchte, dass Sie es wissen, damit Sie – damit Sie wissen, dass nicht ich es bin – dass es nicht mein wahres Ich ist, das sich – das sich wie ein Schuft benimmt. Sehen Sie, selbst jetzt kann ich nichts versprechen. Ich könnte – mir ist alles zuzutrauen! Es könnte sein, dass ich grußlos an Ihnen vorbeigehe oder Sie keines Blickes würdige, aber Sie sollen wissen, dass das nicht ich bin – dass dafür nicht mein wahres Ich verantwortlich ist. Es sind nur meine schwachen Nerven. Sie lassen mich oft im Stich… Wenn sie sagt, dass ich das und das tun soll – dann tu ich es! Dann kann ich einfach nicht anders! Bitte haben Sie Verständnis dafür… Verachten Sie mich, wenn Sie wollen – »
Sarah fiel ihm ins Wort. Leise und unerwartet sanft sagte sie: «Ich werde Sie deshalb nicht verachten.»
«Aber ich habe Ihre Verachtung verdient! Ich bin – unfähig, mich wie ein Mann zu benehmen.»
Teils war es die Erinnerung an Dr. Gérards Worte, mehr aber noch Sarahs eigenes Wissen und ihre Zuversicht, die ihre Antwort bestimmten und ihrer sanften Stimme einen Beiklang von Autorität und Überzeugungskraft verliehen.
«Jetzt können Sie es.»
«Meinen Sie?» Es klang versonnen. «Vielleicht…»
«Jetzt haben Sie den Mut dazu. Das weiß ich.»
Er richtete sich auf, warf den Kopf in den Nacken.
«Mut? Ja, man muss nur den Mut aufbringen!»
Plötzlich beugte er sich vor und berührte ihre Hand mit den Lippen. Gleich darauf war er gegangen.
Zwölftes Kapitel
S arah ging hinunter zum Gemeinschaftszelt. Sie fand dort ihre drei Mitreisenden vor, die am Tisch saßen und aßen. Der Führer berichtete ihnen gerade, dass sich noch eine weitere Gruppe in Petra aufhielt.
«Sie kommen vor zwei Tage. Gehen Tag nach morgen. Amerikaner. Mutter sehr dick, sehr schwer herbringen! Träger tragen in Stuhl – sagen, sehr schwere Arbeit – viel heiß – ja.»
Sarah musste plötzlich laut lachen. So betrachtet hatte die ganze Sache durchaus auch ihre komischen Seiten!
Der beleibte Dragoman sah sie dankbar an. Er hatte es wirklich nicht leicht. Lady Westholme hatte ihn im Laufe des Tages dreimal anhand des Baedekers widerlegt, und jetzt hatte sie etwas an dem Bett auszusetzen, in dem sie nächtigen sollte. Er war daher dankbar, dass wenigstens ein Mitglied seiner Gruppe unerklärlicherweise gute Laune zu haben schien.
«Genau!», sagte Lady Westholme. «Ich glaube, diese Leute waren auch im Solomon. Ich habe die Mutter gleich wieder erkannt, als wir hier eintrafen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie im Hotel mit ihr gesprochen haben, Miss King.»
Sarah errötete schuldbewusst und konnte nur hoffen, dass Lady Westholme nicht allzu viel von dem bewussten Gespräch mit angehört hatte.
Sie fragte sich gequält, was um alles in der Welt damals nur in sie gefahren war.
Lady Westholme war unterdessen zu einem Urteil gelangt und verkündete: «Völlig uninteressante Leute. Sehr provinziell.»
Miss Pierce brachte kriecherisch eifrige Zustimmung zum Ausdruck, woraufhin Lady Westholme zu einer ausführlichen Schilderung diverser interessanter und prominenter Amerikaner ansetzte, denen sie in letzter Zeit begegnet war.
Da es für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß war, wurde beschlossen, am nächsten Tag zeitig aufzubrechen.
Um sechs Uhr früh versammelten sich die vier zum Frühstück. Von den Boyntons war nichts zu sehen. Nachdem Lady Westholme sich höchst kritisch über das nicht vorhandene Obst geäußert hatte, begnügten sie sich mit Tee, Dosenmilch, in Fett schwimmenden Spiegeleiern und versalzenen Speckstreifen.
Danach machte man sich auf den Weg, auf dem Lady Westholme und Dr. Gérard – Letzterer mit deutlich weniger Begeisterung – die exakte Bedeutung von Vitaminen in der täglichen Kost sowie die richtige Ernährung der Arbeiterklasse erörterten.
Dann waren plötzlich Rufe aus der Richtung des Camps zu hören, und so blieb man stehen, um auf den Mann zu warten, der ihnen nachgeeilt kam. Es war Mr Jefferson Cope, dessen sympathisches Gesicht von der Anstrengung des schnellen Laufens gerötet war.
«Entschuldigen Sie, aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich Ihnen heute Vormittag gerne anschließen. Guten Morgen, Miss King. Was für eine Überraschung, Sie und Dr. Gérard hier zu treffen! Na, was sagen Sie dazu?»
Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung
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