Der Tod wirft lange Schatten
Während die Glatzen abdrehten, als sie sahen, daß die Polizei ein Auge auf den Schalter warf, wartete Branka ungestört im Verborgenen. Manchmal half sie dem Mann, schwereres Gepäck aus einem der Regale zu hieven, oder verstaute Taschen, die er ihr reichte. Doch nie ließ der Angestellte sie aus den Augen. Es war gar nicht daran zu denken, das begehrte Stück mit vorgehaltener Waffe zu schnappen und sich aus dem Staub zu machen. Sie wäre nicht weit gekommen. Geduld war gefragt.
Ein alter Mann hatte schließlich den kleinen Koffer abgeholt. Und Branka hatte dem Angestellten am Schalter zum Abschied den versprochenen zweiten Hunderter zugesteckt. Es konnte kein größeres Problem darstellen, den Alten zu überwältigen, auch der schwarze Köter an dessen Seite schien nicht mehr besonders in Form zu sein.
Viktor Drakič hatte ihr sogar eine Belohnung versprochen, wenn sie neben dem Geld auch die Dokumente zurückbringen würde, die sie in Bagnoli verloren hatte. Gestern hatte Branka die junge Taubstumme gesehen. Sobald das Geld in Sicherheit war, würde sie sie wieder aufspüren.
Drakič hatte ihr allerdings nicht gesagt, daß er auch mit dem Geld allein zufrieden wäre. Was sollte er sich weiterhin mit der aufwendigen Erpressung dieser Leute abmühen, die ohnehin nicht mehr lange leben würden. Bisher hatte er gut daran verdient, sie an ihre Vergangenheit zu erinnern, doch eine moralische Abrechnung interessierte ihn nicht. Und mit dem Verschwinden der Zeitzeugen würde die Geschichte ein für allemal nur noch zwischen Buchdeckeln weiterleben, und irgendwann würde sich dann auch dafür niemand mehr interessieren. Die Gesellschaft hatte sich längst auf die Verfolgung jüngerer Kriegsverbrechen konzentriert, doch wurde immer erst dann eingegriffen, wenn es längst zu spät war. Oberflächlich wurde dann Jagd auf ein paar Schergen gemacht, während hinter den Kulissen alles beim alten blieb. Der Westen war zu satt, zu träge und impotent. Es fehlten den Leuten sowohl die Phantasie als auch der Wille, etwas zu verändern. Man schielte lediglich auf künftige Renditen, teilte das Geschäft auf und wartete ab. Warum sollte dann ausgerechnet er, Viktor Drakič, anderes tun, als sich am Markt zu orientieren?
Einen Tag noch. Dann wäre so viel Geld in der Kasse, daß er sich allmählich auch Gedanken über die Übernahme von Petrovacs Geschäftszweig machen konnte. Seit dieser wieder auf freiem Fuß war, hatte er seine Peking-Linie von Belgrad nach Tirana verlegt und ging nun ungestört dem Ausbau seiner Tätigkeit nach. In diesem Jahr hatte er so viele illegale Einwanderer nach Westeuropa gebracht wie nie zuvor. Er stand ganz oben auf den deutschen, österreichischen und englischen Fahndungslisten und war in Italien längst rechtskräftig verurteilt. Nach den Wahlen in Kroatien würde sich die neue Regierung, egal welcher Couleur, allerdings der Europäischen Union anbiedern, und dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Petrovac wieder gesiebte Luft atmen würde. Viktor Drakič mußte gewappnet sein.
*
Marietta hatte ihm einen Zettel auf den Tisch gelegt, auf dem stand, daß Mia im Flur wartete. Laurenti wollte sich noch etwas Zeit mit Calisto lassen und hackte weiter auf den alten Fragen herum. Als er ihn schließlich hinausführte, stellte sich Laurenti zwischen Calisto und Mia. Mia drehte er den Rücken zu.
»Wir sehen uns bald wieder«, sagte er laut. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Sie wissen mehr über Angelos Tod, als sie zugeben. Aber bisher hat noch jeder gestanden. Machen Sie es sich nicht zu schwer.«
Calisto blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Wegen Laurenti konnte er nicht mit Mia sprechen, die ihm fragend nachschaute. Der Polizist wartete, bis er im Treppenhaus verschwunden war, dann drehte er sich um.
»Ihr Umgang gefällt mir nicht, Mia«, sagte er.
»Haben Sie mich etwa gerufen, um mir dies mitzuteilen?« war ihre patzige Antwort. »Ich habe wenig Zeit.«
Sie trug die Mappe mit den Vertragsunterlagen bei sich, und Laurenti sah den Aufdruck des Notariats. Er führte sie in sein Büro, ging aber gleich noch einmal hinaus und gab Sgubin den Auftrag, sich im Notariat über den Grund von Mias Besuch zu erkundigen.
»Sind Sie inzwischen zur Geschäftsfrau geworden?« fragte Laurenti und deutete auf die Mappe, die Mia verkehrt herum auf den Tisch gelegt hatte.
»Das ist nichts Besonderes«, sagte sie. »Ein paar Beglaubigungen von Dokumenten. Zeitraubender Bürokratiekram. Aber
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