Der Tod wirft lange Schatten
Heidelberg, Freiburg, Straßburg, Metz, Brüssel, Paris, Nizza, Saint Tropez, Mailand, Parma, Cinqueterre, Pisa, Toskana, Bologna, Rimini, Ravenna, Ferrara, Padua, Triest. Sie war durch halb Europa gekommen. Seit einem Jahr wurde sie durch die herrlichsten Städte geschickt und mußte Geld erbetteln gegen Dinge, die niemand haben wollte. Die Gegenstände blieben stets die gleichen, nur die Sprachen auf den Kärtchen wechselten wie die Gesichter ihrer Chefs. Sie mußte den Zug nehmen und die Fahrkarte selbst bezahlen. Waggon um Waggon, Abteil um Abteil zog sie weiter, mit leerem Blick und vollem Rucksack.
Bereits in Berlin hatte man ihr eine Lektion erteilt, ohne daß sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Einfach so. Damit sie wußte, was ihr drohte, wenn sie nicht spurte. Man hatte ohne Wimpernzucken brennende Zigaretten auf ihrem Arm ausgedrückt. Die Brandwunden schmerzten höllisch und begannen zu eitern. Selbst wenn es warm war, traute sie sich nicht, die Ärmel nach oben zu schieben, um mit den offenen Wunden keinen Ekel zu erregen.
Einmal wurde sie vor ihren Leidensgenossinnen vergewaltigt, auf Befehl des Chefs, der gelangweilt zuschaute und dabei einer anderen die Hand unter den Rock schob. Das Schwein hatte für die Demütigung einen Kerl ausgesucht, der kleiner und kaum stärker war als sie und widerlich stank. Aber sie durfte sich nicht wehren. Einige Monate später wurde sie in Brüssel zu einem Arzt gebracht, der ihr nicht ein einziges Mal in die Augen schaute. Willenlos nahm sie die Abtreibung hin und machte sich trotz der Schmerzen, die ihr dieser Metzger zugefügt hatte, gleich wieder auf den Weg durch die Lokale.
Immer wenn sie in Kontakt kam mit Menschen, die nicht schnöde über sie hinwegsahen, kam der Befehl zur Weiterreise. Im Zug von Lyon nach Marseille hatte sie sich auf einer Europakarte ihre bisherigen Stationen zusammengesucht. Sie konnte kein System hinter der Route entdecken. In Marseille war sie nach der Ankunft nicht zu der angegebenen Adresse gegangen, sondern hatte sich auf die Treppe vor den kunstvollen schweren Bronzetüren der Kirche Saint-Vincent de Paul les Réformés gesetzt und war eingeschlafen. Die Polizei hatte sie aufgelesen und nach erfolgloser Befragung in einem Haus abgeliefert, in dem viele andere Frauen lebten, von denen die meisten, wie sie sich erinnerte, eine Zigarette nach der anderen rauchten. Niemand verstand die Zeichen, die sie machte, manche lachten sogar darüber und äfften sie nach. Aber sie bekam zu essen und zu trinken und konnte duschen. Als sie sich wieder anzog, bemerkte sie, daß der Rucksack fehlte. Um acht Uhr am nächsten Morgen kam eine junge Frau, die ihre Art der Verständigung beherrschte und Irina aufforderte, mitzukommen. Sie spürte kein Mißtrauen und folgte ihr durch die erwachende Stadt bis hinaus in einen der häßlichen Außenbezirke, wo die Menschen in riesigen Wohnsilos hausten. Irina hatte längst die Orientierung verloren, als sie ein schmutziges Treppenhaus hinaufstiegen. Sie wußte nicht, in welcher Etage ihre Begleiterin an die Tür klopfte und Irina ablieferte. Hinter der Tür begann das Martyrium. Vorwürfe, daß sie sich nicht gemeldet hatte, Schläge, Zigarettenglut, Vergewaltigung. Nach stundenlanger Mißhandlung wurde ihr eine letzte Chance gewährt – Nizza und Saint Tropez. Ferienorte am Ende des Sommers. Die Summe, die man von ihr verlangte, wurde erhöht. Wenn sie es nicht schaffte, würde man sie nach Rußland zurückbringen, zur Ausbildung, wie sie es nannten. Irina wußte inzwischen, daß dies das Schlimmste war, was ihr passieren konnte. Zu Hause hatte die Organisation alle Möglichkeiten, ihren Willen zu brechen. Selbst wenn es Monate dauern sollte. Und später würde man sie wieder nach Westeuropa bringen, damit sie das Geld, das ihren Chefs inzwischen entgangen war, wieder reinholte.
Irina zog ihre Runden von Lokal zu Lokal. Die Russen an der Côte d’Azur waren manchmal sehr freigiebig. Nur in Saint Tropez hatte man sie aus vielen Lokalen gejagt wie einen räudigen Hund. Sie schaffte die Vorgaben knapp und wurde nicht mehr so brutal mißhandelt. Zwei Wochen später war sie in Turin, dann in Mailand. Den Winter über hatte man sie durch die abgelegenen Provinzstädte geschickt, nun war sie vor einem Monat in Triest gelandet. So viel Zeit hatte sie bisher noch nie an einem Ort verbracht.
Die Stadt war überschaubar, sie teilten sie sich zu viert. Die Menschen gaben gelegentlich Geld, scherten sich
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