Der Tod wirft lange Schatten
Kaufvertrag für das Haus unterzeichnet werden und Mia einen beglaubigten Bankscheck erhalten. Gleich anschließend wollte sie ihn in der Bank einreichen und das Konto auflösen. Danach bliebe ihr genug Zeit, die Abreise vorzubereiten. Am nächsten Morgen würde sie Italien verlassen. Am vergangenen Nachmittag, am Strand von Brioni, hatte sie Calisto erzählt, sie müßte für drei Tage nach Mailand fahren, um Formalitäten auf dem Generalkonsulat zu regeln und Bekannte zu besuchen. Sein Angebot, sie zu begleiten, hatte sie lächelnd abgelehnt.
*
Irina war früh aufgewacht. Galvano hatte alle Mühe gehabt, sie davon abzuhalten, das Haus zu verlassen. Der neue Tag brachte alte Ängste zurück, denen sie nachgegeben hätte, wenn der alte Mann nicht dagewesen wäre. Als die Übersetzerin vor der Tür stand, nahm Galvano sie im Flur beiseite, log ihr etwas von einer geheimen Ermittlung vor und erinnerte sie daran, daß sie unter Eid stünde. Irina erschrak, als sie die Frau in die Küche treten sah, doch beruhigte sie sich wieder, auch wenn ihre Körperhaltung angespannt blieb und ihr unruhiger Blick immer wieder zur Tür schwenkte. Die Unterhaltung war nicht einfach. Die Übersetzerin erklärte Galvano, daß die Gebärdensprache kein Esperanto sei und sie selbst Mühe hätte, alles, was Irina antwortete, richtig zu interpretieren, weil sie aus einem fremden Sprachraum kam. Galvano wartete ein paar Minuten ab, dann bat er, die Gesprächsführung übernehmen zu dürfen.
»Woher kommst du?«
»Rußland, Woronesch.«
»Wovor hast du Angst?«
»Ich habe keine Angst.«
»Doch.«
»Ich muß arbeiten. Wenn ich viel arbeite, sind sie freundlich.«
»Wer ist freundlich?«
»Die Männer.«
»Woher hast du die Brandwunden?«
»Ich habe nicht genug gearbeitet.«
»Du brauchst keine Angst zu haben. Hier bist du sicher.«
Die Antwort war ein ungläubiges Lächeln.
»Ich werde dich beschützen, und ich habe dazu alle Möglichkeiten.«
»Bist du von der Polizei?«
»Nicht direkt. Aber ich kann dir helfen.«
Es ging stockend voran, übersetzen kostet Zeit. Doch Galvano hatte keine Eile. Auch als Gerichtsmediziner mußte er sich durch Schichten vorarbeiten, Gewebe um Gewebe abtragen und analysieren, sich von Organ zu Organ weiterarbeiten, bis er die Gewißheit hatte, daß ihm nichts entgangen war und er das Ergebnis formulieren konnte – stets ohne Wertung, nüchtern und neutral. Deutungen blieben anderen überlassen, ermittelnden Beamten wie Laurenti oder dem Untersuchungsrichter, dem Staatsanwalt, den Journalisten, den Verteidigern, dem Richter und häufig genug den Nachkommen.
Als Irinas Anspannung sich nach über einer Stunde plötzlich wie ein Erdrutsch löste, hatte dies einen schrecklichen Heulkrampf zur Folge. Den Arm allerdings, den die Übersetzerin um sie legen wollte, wies sie brüsk ab und rückte mit ihrem Stuhl schlagartig so weit vom Tisch weg, daß sie gegen die Wand stieß.
Wenn sie ihn doch wenigstens verstanden hätte! Mit seiner Stimme hätte er sie beruhigen können. Erst nach langen Minuten des Wartens, in denen Galvano hilflos am Tisch saß und sich immer wieder mit beiden Händen durchs Haar fuhr, setzte sie sich plötzlich mit einem heftigen Ruck auf und gestikulierte los wie eine Wilde. Immer wieder mußte man sie unterbrechen, damit Galvano folgen konnte. Dem zynischen Alten, als den man ihn kannte, dem Mann, der ein Leben lang selbst auf die härtesten Situationen mit Spott reagierte, war auf einmal das Blut aus dem Gesicht gewichen. Mit fahriger Hand machte er sich Notizen und überließ die Fragen der Übersetzerin, die in ihrem Berufsleben gelernt hatte, wie Zeugenbefragungen abliefen.
»Ich brauche meine Sachen«, sagte Irina immer wieder verzweifelt, »sie sind alles, was ich habe.«
»Ich kaufe dir neue«, hatte Galvano jedesmal geantwortet, doch die junge Frau ließ sich nicht beruhigen. Galvano konnte nicht verstehen, daß jemand an den wenigen, billigen Gegenständen hängen konnte.
Gegen Mittag waren alle drei spürbar erschöpft, und noch immer hatte es keine Gelegenheit gegeben, Irina nach den Dokumenten zu befragen, die er ihr auf der Piazza Ponterosso abgekauft hatte. Die Schilderung ihrer Reise durch Europa, von den Qualen und Gefahren, die von der Organisation ausgingen, hielten alle in Atem. Nur den Beleg der Gepäckaufbewahrung im Bahnhof hatte sie ihm gegeben und darum gebeten, er möge selbst hingehen.
Die Übersetzerin hatte Galvano mehrmals gefragt, ob es nicht
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