Der Tod wirft lange Schatten
besser sei, die Polizei hinzuzuziehen, doch der Alte war stur geblieben. Hier gehe es um eine geheime Ermittlung, weshalb man bei ihm zu Hause und nicht in einem trostlosen Büro in der Questura säße.
Es war Zeit für eine Pause. Galvano griff nach dem Telefon und bestellte Pizza. Die Übersetzerin wollte über Mittag etwas erledigen und verabschiedete sich.
»Wir machen morgen weiter«, sagte Galvano, während er sie zur Tür begleitete.
»Morgen kann ich nicht. Da bin ich den ganzen Tag am Gericht.«
»Dann heute Nachmittag. Gegen siebzehn Uhr.«
Irina durfte die Wohnung auf keinen Fall verlassen. Sie war seit Stunden überfällig, man würde sie also längst suchen. Niemand wußte, daß sie bei Galvano war. Niemand außer der Übersetzerin. Und dem großen, schwarzen Hund, der auf der Türschwelle zum Flur lag und ihnen mit den Augen folgte. Manchmal schaute er zur Tür.
Stumm aßen sie ihre Pizza. Die junge Frau hielt den Blick starr aufs Fenster gerichtet, und Galvano versuchte, nebenbei Ordnung in seine Aufzeichnungen zu bringen. Irgendwann schob er den Teller weg und begann einen Bericht zu verfassen. Was Irina erzählt hatte, war schockierend. Daß es derartige Grausamkeiten in Europa gab und daß sie unter und vor den Augen der braven Bürger geschahen, mußte jeden aufgeklärten Zeitgenossen empören. Immer wieder warf er dem Mädchen einen verstohlenen Blick zu, weil er nicht fassen konnte, was er hörte. Die junge Frau dagegen schien gefaßt. Zu lange hatte sie ihr Schicksal schon erduldet, um sich selbst zu bemitleiden.
Um vierzehn Uhr stand Galvano vom Tisch auf und machte Irina klar, daß er den Hund ausführen mußte. Das verstand sie sofort. Sie sollte niemandem öffnen, auch das war leicht zu verstehen. Sie lachte kurz, als er einen imaginären Schlüssel bewegte und den Finger hob. Dann zeigte er ihr die Fernbedienung des Fernsehers und ließ sie allein. Trotz der Hitze zog er sein Jackett über die Weste.
*
Das Touristenvisum hatte drei Monate gegolten und war seit langem verfallen. Neunhundert Dollar hatte das Dokument gekostet. Irina hatte den Betrag mit Hilfe ihrer Verwandten aufgebracht, die sich dafür verschuldeten und denen sie versprochen hatte, monatlich Geld aus Westeuropa zu schicken. Dann war sie in einen Reisebus gestiegen, der sie in den goldenen Westen bringen sollte. Vor der Einreise in die EU nahm man ihr den Paß ab, für immer, wie sich herausstellen würde. Zunächst ging es nach Berlin. Das schmutzige Zimmer in einem fast leerstehenden Gebäude mußte sie sich mit fünf anderen jungen Frauen teilen. Sie lagen auf Matratzen am Boden, Essen gab es aus Büchsen oder wurde gebracht. Genug war es nie.
Der Chef der Gruppe, eskortiert von einem bösartig aussehenden Leibwächter, erklärte gleich nach ihrer Ankunft in knappen Gesten die Aufgabe und händigte ihr einen billigen Rucksack mit Schlüsselanhängern, anderem Kleinkram und in einer fremden Sprache bedruckten Kärtchen aus. Es war furchtbar, nichts von dem verstehen zu können, was sie las. Der Wert des scheußlichen Krimskrams, außer den Schlüsselanhängern Stofftiere und Feuerzeuge, wurde mit tausend Euro vermerkt, die Irina innerhalb von vierzehn Tagen zu begleichen hatte. Eine Woche darauf vierhundert Euro für die Unterkunft. Vierhundert Euro! Davon konnte zu Hause die Familie viele Monate leben. Und schließlich die Lizenz, wie er es ausdrückte: Weitere sechshundert Euro pro Monat. Der Rest bliebe dann ihr, höhnte er.
Sie war in all ihrer Naivität oder Dummheit in eine Falle getappt, und ohne Paß war sie verloren. Die anderen jungen Frauen gaben Ratschläge und nannten Restaurants und Kneipen, die sie besser meiden sollte. Aber helfen konnten sie ihr nicht. Sollte man ihr den Weg gleich an der Tür versperren, dann nichts wie weg. Ansonsten sollte sie unbeirrt ihre Runde machen. Den Leuten nur kurz in die Augen schauen, niemals lächeln. Und eine Sache war besonders wichtig: Sie mußte den Anordnungen des Chefs ohne Abstriche folgen, durfte weder fragen noch widersprechen, und sich vor allem niemals verspäten. Er verstand keinen Spaß und schlug sofort zu. Würde sie sich wehren oder abhauen, dann mußte sie damit rechnen, daß ihrer Familie etwas passierte.
Irina spürte, daß es ernst war. Also wollte sie ihr Bestes geben. Trotz der bedrückenden Umstände war sie in einem anderen Land, was ja auch aufregend war. Sie hatte allerdings keine Ahnung, was ihr bevorstand.
Berlin, Rüdesheim,
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